Short Story

Super Value Country

Ein Mann ohne Ziel, eine Frau ohne Vision: Beide begegnen sich irgendwo in den USA und essen Donuts mit dicker Schokoglasur.

Gestern Nacht lag ich hellwach im Bett, als weißes Licht über den Himmel flackerte und durch die Wolken zuckte. Das trockene Krachen klang wie Krieg. Gegen vier Uhr am Morgen schlossen Warm- und Kaltfront den ersehnten Frieden. Erst mit dem Waffenstillstand kam die Ruhe.

Jetzt muss ich schon wieder gähnen und halte etwas verspätet die Hand vor den Mund. Ich sitze auf einem weichen Sofa, dessen Muster das Polster in vertikalen Bahnen umschlingt.

Visuelles Thema: Urwald mit Papageien und Palmenblättern.

Das Sofa ist sattgrün und ein bisschen gelb. Es hat die Form und Konsistenz einer reifen Banane.

Eine zu laute und aufgebrachte Stimme stört die Stille, in der ich es mir gemütlich gemacht hatte: «Die Klimaanlage geht nicht richtig, es ist viel zu kalt bei uns», beschwert sich eine junge Frau. Sie klingt leicht verschnupft und komplettiert ein Liebespaar, das vor dem Empfangstresen steht. Vier Füße ruhen in vier Flipflops. Die Rezeptionistin nickt mehrmals verständnisvoll. Ihre Arbeit muss entsetzlich langweilig sein: Den ganzen Tag muss sie sich Beschwerden anhören und dabei stets freundlich bleiben und immer lächeln. Den ganzen Tag muss sie jemand anders sein, eine Maske tragen und dahinter ihre wahren Gefühle verbergen, bis sie komplett abstumpft. Worte sind nur noch Laute und bewirken nichts mehr. Sie ist ein Automat.

«Den meisten Gästen ist es eher zu warm», erklärt die Rezeptionistin routiniert.

Draußen ist es nicht warm, sondern heiß und alles sollte in Flammen stehen, so brutal scheint die Sonne. Erbarmungslos, als wollte sie der Menschheit endlich ihr überfälliges Ende bereiten. Doch hier in der Lobby und in den Zimmern dieses Markenhotels ist es lausig kalt. Leises Surren, es zieht. Die Intention ist gut und das technische Konzept stimmt. Doch es hapert an der praktischen Ausführung, es fehlt die gesunde Balance: Statt das eine Extrem auszugleichen, schaffen die brummenden Geräte ein zweites.

«Mir ist das wirklich zu kalt, besonders nachts, ich friere richtig.»

Neben dem Sofa stehen links und rechts zwei ergänzende Sessel im selben Muster. Noch mehr Bananen, noch mehr Palmenblätter, noch mehr Papageien, noch mehr Grün und dazwischen etwas Gelb. Hinter mir stehen dürre Pflanzen, deren Blätter sanft aneinander schaben. Ich sitze mitten im Dschungel.

Ansonsten ist die Lobby ein deprimierender Ort. Sehr ordentlich, hell und steril. Diesem Raum fehlt jeglicher Charme, ihm fehlen Patina und Geschichte. In der einen Ecke steht ein schmaler ATM, ein Geldautomat, der zum Geldverschwenden einlädt. In der anderen Ecke steht ein Metallgestell und bietet bunte Prospekte an. Ein Mann mittleren Alters interessiert sich ausgiebig und voller Hingabe für die Sehenswürdigkeiten der Gegend. Kategorie: Männer, die sich Staudämme angucken. Er nickt beim Lesen der Prospekte und verschwindet schließlich mit den Händen voller Hochglanzpapier im Fahrstuhl.

«Frauen haben ja auch weniger Muskeln», erläutert der Freund unaufgefordert. Sein rechter Fuß flutscht aus dem Flipflop und sein großer Zeh schabt seinen Knöchel entlang, wo ein roter Mückenstich zu bluten beginnt. Er mag es wohl etwas kühler, der Freund, aber er will seiner Freundin bei den schwierigen Verhandlungen nicht in den Rücken fallen.

«Ich schicke euch einen Techniker hoch», verspricht die Rezeptionistin und klackert ein paar Buchstaben in den Computer. «Der schaut sich das morgen an.»

«Morgen? Das finde ich inakzeptabel», umreißt die frierende Frau die frustrierende Situation. Ihre Worte treffen gegen die glatten Wände, prallen ab und verhallen.

«Tut mir leid», behauptet die Rezeptionistin und macht ein zur Situation passendes Gesicht.

«Tja», sagt der Freund und gähnt und steckt mich an – jetzt gähnen wir gemeinsam. Wir sind heute alle übermüdet und warten auf die gemütliche Dunkelheit, die hoffentlich einhergeht mit einer Abkühlung der Luft.

Das Paar gibt sich geschlagen. Die Rezeptionistin wünscht ihnen zum Abschied einen «schönen Tag». Der Fahrstuhl erreicht die Lobby, ein leises «Ping!» ertönt und die Türen öffnen sich. Das Paar betritt die Kabine und verschwindet. Es ist kurz ruhig, bis auf das Rauschen der Klimaanlagen, das Schaben der Pflanzen. Und plötzlich stehen zwei Beine vor mir: Michelle ist der Grund für mein Warten, für meine Anwesenheit an diesem Ort. Ihretwegen sitze ich im Dschungel, in der grünen Hölle, die nach nichts riecht.

«Hey», sagt sie.

«Hey», sage ich.

Ich stehe vom Sofa auf und lächle. Michelle lächelt auch, aber zaghafter. Sie sieht geschafft und müde aus – hinter ihr liegt ein langer Arbeitstag. Michelle arbeitet in einem kleinen Convenience Store in der Nähe. Ich habe mir dort am Vormittag eine Flasche Fanta und eine Tüte Chips gekauft. An der Decke bewachte eine kleine Kamera aufmerksam das Geschehen und ich fragte mich, ob sie echt war. An der holzvertäfelten Wand hingen eine Uhr und ein Thermometer: halb elf / dreiundachtzig °F. Das Surren der Klimaanlage ließ erahnen, dass der Filter seit längerer Zeit nicht mehr ausgetauscht worden war. Das Gerät klang wie das Husten eines älteren Herrn (der sich leidenschaftlich gern Staudämme anschaut).

Ich stand noch eine Weile vor einem Gemälde, das wie ein Fremdkörper in dem kleinen Laden wirkte. Es zeigte Tannen, hohe Tannen, schlanke Tannen, die einen schwarzen See umrahmten. Ich sehnte mich nach Natur, aber der Wald war weit weg.

Die Kassiererin tippte die Preise in die Kasse, ein paar $ irgendwas. Das Namensschild an ihrem Shirt verriet, wie sie hieß. Michelle sah hübsch aus, sie gefiel mir sofort und ich hatte seit Tagen keine längere Unterhaltung mehr geführt.

«Würdest du mit mir einen Kaffee trinken gehen?», fragte ich spontan und überraschte mich damit selbst. Mein Gesicht wurde heiß, glühte und verbrannte. «Ich bin neu in der Stadt.»

Es war kein anderer Kunde im Laden, sonst hätte ich mich nicht getraut, sie einfach anzusprechen. Mir gefiel der Gedanke, mit Michelle zu reden.


«Lass uns gehen», sagt sie und wir verlassen den Urwald. Draußen transpiriert ein Oberlippenbart aus meiner Haut, den ich in den Ärmel wische. Die Sonne steht tief und färbt den hellgrauen Beton gelblich ein. Eine rote Linie am Bordstein mahnt vor dem Falschparken. Das Schaufenster verspricht Air Conditioning und neben Cold Coke auch Hot Coffee. Draußen wünsche ich mir etwas Kühles, drinnen trinke ich lieber Kaffee, immer mit einer großzügigen Portion Milch (und ohne Zucker). Michelle trinkt ihren schwarz und zügig. Dazu essen wir Donuts mit dicker Schokoglasur.

«…»

«…»

Wir sitzen in einem Diner neben einer Tankstelle, nicht weit von meinem Hotel entfernt. Sitzen auf rotem Kunstleder, auf dem noch ein paar Krümmel herumliegen. Die meisten Tische sind leer. Ich versuche, weiterhin zu lächeln, aber meine Gesichtsmuskeln spielen nicht mehr mit. Wäre ich doch wie die Rezeptionistin, die unbeirrt lächelt und immer fröhlich schaut, obwohl sie innerlich längst tot ist.

Michelle schiebt ihren Teller ein paar Zentimeter zur Seite, dann schiebt sie ihn wieder zurück in seine Ausgangsposition. Er steht direkt vor ihr, ziemlich mittig. Die Bedienung läuft an unserem Tisch vorbei. In der Küche scheppert es. Draußen hopst ein Kind die Straße entlang, kreischt und lacht.

Ich muss mich dringend zusammenreißen. Muss mir Mühe geben, sollte endlich reden und eine angeregte Unterhaltung beginnen. Stattdessen verschwende ich schweigend unsere Zeit. Das muss doch Schuldgefühle auslösen! Aber nein, ich fühle mich wie ein leeres Zimmer mit nackten Wänden. Fensterlos und mit einer nackten Glühbirne an der Decke. Geistige Leere und Müdigkeit blockieren mich. Spüre nichts.

Irgendwo in meinem Rachen kleben die Worte fest und kratzen im Hals – selbst banaler Small Talk will nicht über meine Zunge rutschen. Gerede über das Wetter etwa! Doch ich kann Michelle unmöglich erzählen, wie heiß es draußen ist – das spürt sie doch selbst.

«…»

«…»

Die unangenehme Stille dauert an. Weitet sich aus. Ich erwische mich dabei, wie ich tagträumend zur großen Fensterfront schaue und fantasiere, wie Zombies die großen Scheiben einschlagen und endlich die Apokalypse ausbricht. Hinterm Tresen liegt die geladene Shotgun bereit; ein gekonnter Griff, kraftvoll durchladen und immer auf die Köpfe ballern. Auf den Tischen liegt Gehirnmasse mit Schädelsplittern und –

Zwischendurch fragt die Bedienung, ob sie noch Kaffee nachfüllen könne. Oh ja, bitte! Alltag hier draußen. Danke.

«…»

«Also schön, dann erzähl doch mal: Was hat dich hierher verschlagen?», unterbricht Michelle die Ruhe und spielt mit.
Ich spüre, wie sich allmählich die Brocken in meinem Hals lösen und höre mich sprechen: «Ich erkunde das Land. Vor vier Wochen bin ich in L.A. gestartet und seitdem bin ich unterwegs.»

«Der klassische Roadtrip.»

«Nicht unbedingt originell, ich weiß», sage ich und halte inne, als würde sich zögerlich ein großer Gedanke formen. Doch da kommt nichts mehr, nur mickriger Kleinkram.

«Gefällt dir die Reise bisher?», fragt Michelle nach einem Moment der Stille.

«Meistens schon», sage ich. Korrekterweise hätte ich antworten müssen, dass ich nicht zum Vergnügen reise. Aber eine Erklärung wäre zu kompliziert gewesen, außerdem unpassend.

«Das würde ich auch gern mal machen – einfach unterwegs sein und das Land sehen.»

Wir trinken unseren Kaffee. Es sei nie zu spät, behaupte ich, doch es klingt banal und verlogen – denn natürlich ist es irgendwann zu spät, irgendwann ist alles zu spät. Nichts geht mehr. Schwarz.

«Was hält dich auf?», frage ich.

«Die Kosten», sagt sie. «Wäre schon ein teurer Spaß. Das Benzin und die Hotels – all das. Ich würde auch niemals allein aufbrechen.»

Ich nicke beim Trinken.

«Und bist du nicht schrecklich einsam?», fragt sie.

«Ich weiß nicht. Ich spüre eher eine berauschende Einsamkeit, weißt du?»

«Hm.»

«Manchmal erleichtert das Alleinsein ungemein. Es gibt ja keine Erwartungen zu erfüllen. Es ist eine ungetrübte Freiheit: Ich kann früh schlafen gehen oder die ganze Nacht wach sein, ich kann stundenlang ziellos herumlaufen. Nur denken, nur sein – nichts weiter. Es gibt niemanden, der mir etwas vorwirft, niemand, der mich maßregelt. Das gefällt mir. Die Unabhängigkeit.»
Michelle nickt zaghaft, ihr Blick ist zweifelnd.

«Was aber nicht heißt, dass ich einer guten Unterhaltung aus dem Weg gehe», ergänze ich lahm.
Michelle schaut mich an und legt ihren Kopf leicht schräg, in Richtung rechter Schulter.

«Ich treffe immer wieder interessante Menschen», behaupte ich.
Michelle überlegt einen Augenblick. «Ich halte es nie lange ohne meine Familie aus. Ich brauche meine Leute um mich herum. Und natürlich meinen Verlobten –»

Ihren Verlobten.

«– mit dem ich alles bequatschen kann. Vermisst du deine Freunde nicht? Deine Freundin?»

«Ach, nein. Ein bisschen vielleicht. Aber es geht. Die vier Wochen sind erstaunlich schnell vergangen», sage ich und schiebe mir den letzten Donut-Brocken in den Mund.

Keiner meiner Freunde wollte mitkommen, sie haben dieser Tage viel zu tun und zu viel Stress. Bei der Arbeit, mit den Frauen und was nicht alles. Und so ein Roadtrip ist ja schließlich auch ein teurer Spaß.

«Wie bist du eigentlich in unserer kleinen Stadt gelandet?»

«Purer Zufall», sage ich. «Mein Navi hat plötzlich nur noch Schwärze angezeigt und ich hab mich völlig verfahren. Dann wurde es draußen auch immer dunkler und am Ende bin ich irgendwie hier gelandet. Das ist jetzt zwei Tage her.»

«Gefällt’s dir hier?»

«Viel habe ich noch nicht gesehen. Im Fernsehen lief ein Simpsons-Marathon», erkläre ich.

«Hm.»

Michelle schlürft ihren Kaffee in großen Schlucken. Ihre Lippen sind sehr schön, sehr rot und sicherlich auch sehr weich.

Ein älterer Mann kommt zur Tür rein, definitiv kein Zombie. Er setzt sich auf einen Hocker am Tresen und begrüßt die Bedienung: «Hey, Marge.»
Marge hat keine blauen Haare, aber gelbliche Haut, vielleicht liegt das am Sonnenlicht, das durch die Scheibe fällt.

«Wie geht’s dir, Harold?»

«Gut.»

«Fein. Und?»

«Das Übliche.»

Er wird einen Kaffee bekommen, schwarz und bitter, dazu ein Sandwich mit Chicken und Bacon.

«Okay, Harold.»

Wie sie sich beim Namen nennen. Zu Hause weiß ich nicht, wie die Typen bei Starbucks heißen.

«Bist du tätowiert?», fragt Michelle. Ihre Stimme ist erschreckend laut. Schrei doch nicht so, will ich ihr sagen, tue aber lieber so, als würde ich über ihre Frage nachdenken.

«Nein», sage ich schließlich und füge noch rechtzeitig hinzu: «Und du?»
Darauf hat sie gewartet, es ist ihr anzusehen.

«Das habe ich mir letzte Woche stechen lassen», sagt sie und zieht ihren weiten Kragen zurück und zeigt mir ihr entblößtes Schulterblatt, auf dem zwei asiatische Schriftzeichen zu lesen sind: 自由.

Das sei Japanisch, erklärt sie.

«Hm. Und was steht da?»

«Freiheit», sagt sie.

«Oh, kannst du Japanisch?»

«Nee», sagt sie und lacht.

Ich trinke meinen Kaffee aus.

«Wer weiß, vielleicht steht da eigentlich ‹Dosenhühnchensuppe› auf deinem Schulterblatt», sage ich und lache auch ein bisschen, was Michelle ignoriert.

«…»

«…»

«Dann habe ich da noch einen Totenschädel auf dem Arm», sagt sie und schiebt den Ärmel ihres Shirts hoch. Der Schädel hat wunderschöne Zähne.

«Hübsch», lobe ich.

«Ich bin auch wirklich sehr zufrieden damit», sagt Michelle und schiebt den Ärmel zurück über den Toten. «Ich habe noch ein drittes Tattoo – aber das kann ich dir nicht zeigen.»

«Versteh schon. Jeder Mensch braucht seine Geheimnisse», konstatiere ich.

Plötzlich muss Harold laut husten. Der erstickt fast. Marge eilt herbei und bringt ihm ein Glas Wasser. Rührend kümmert sie sich um den alten Mann in Not. Alltag hier draußen. Als Marge mich wenig später fragt, ob ich noch etwas Kaffee haben möchte, verneine ich. Michelle schaut auf ihre Armbanduhr: Sie müsse jetzt nach Hause. Das warme Sonnenlicht fällt auf ihr Gesicht, es ist wirklich hübsch anzusehen. Die Wettervorhersage hat für heute eine ruhige Nacht versprochen.