Amsterdam

LSD im Vondelpark

Verliebt schlendern wir durch die Straßen von Amsterdam. Vorbei an den Grachten und schiefen Häusern – auf dem Weg ins seltsamste Museum.

Im Spätsommer 2014 stehe ich mit meiner Freundin vor dem Centraal-Bahnhof in Amsterdam; es ist unsere erste gemeinsame Reise. Vorhin sind wir mit dem Zug und leichter Verspätung eingetroffen, jetzt überlegen wir, wie es weitergeht. Fremde Gesichter huschen an uns vorbei, Straßenbahnen halten und Menschen mit Aktentaschen strömen heraus und fallen hinein. Gelangweilt, weil sie das jeden Tag machen.

Als wir herausfinden, dass wir die Linie 17 nehmen müssen, fährt die Bahn gerade ab. Ohne uns. Wir bleiben noch eine Weile und schauen zu, wie die anderen ihre Wege gehen.

Unsere Haltestelle: Hoofdweg. Die Unterkunft befindet sich in einer ruhigen Wohngegend am Rande des Stadtzentrums. Unsere Rollkoffer klackern über den Fußweg, wir biegen in eine Seitenstraße ein und stehen schließlich vor einer schmalen Haustür. Im ersten Stock befindet sich ein fremdes Zuhause, das eine Woche quasi uns gehört. Fremde Bücher in fremden Regalen und fremdes Geschirr in fremden Schränken.

In der Wohnung wohnt sonst Niccolo, der zu seinem Freund gezogen ist, solange wir in seinem Zuhause leben. Wir werden Niccolo niemals zu Gesicht bekommen; nur sein Partner schaut am Ende der Woche nach, ob die Bücher noch da sind.

«The place looked very clean, did you even stay there?», schreibt Niccolo uns später. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Kompliment sein soll.

Vom Gepäck befreit, erkunden wir die Stadt mit ihren Straßen und Grachten und den vielen schönen, schmalen Häusern. Amsterdam ist der richtige Ort für Liebe, ein Ort voll Wärme und Offenheit. Als wir verliebt durch die Straßen schlendern, begegnen uns viele fröhliche Blicke, und die Leute lächeln uns an.

«You guys kiss great», flötet eine Frau im Vorbeigehen. «You look amazing!», trällert eine andere.

Andererseits irritiert diese Aufmerksamkeit: Als meine Freundin und ich auf einer der vielen Brücken stehen, schaut uns eine fremde Frau beim Knutschen zu, befriedigt sich selbst, stöhnt und kommt. Lacht und geht. Manche Leute sind schon seltsam.

Rucksäcke in Rossebuurt

Das Rotlichtviertel ist das älteste und vielleicht schönste Viertel der Stadt. Wie ein starker Magnet zieht es alle Touristen an, die sich durch die engen Straßen drängeln. Ich sehe randlose Brillen, glänzende Funktionsjacken und verbeulte Rucksäcke. Viele der Besucher wollen nur die Frauen sehen, die sich wie Waren in beleuchteten Schaufenstern präsentieren. Prostitution als Attraktion. Im Crowded Planet steht, dass der Bezahl-Sex eine Viertelstunde dauert und durchschnittlich fünfzig Euro kostet. Ist das viel, ist das zu wenig – ist das angemessen? Ich weiß es nicht. Im Reiseführer steht auch, dass die Touristen keinesfalls Fotos von den Schaufenstern machen sollen – sonst landet die Kamera in der Gracht und eine Faust in der Fresse.

Alles ein wenig krumm und schief – aber gemütlich!

Wir sind dann mittendrin, umgeben von Körpern und Rucksäcken. Eine der Frauen im Schaufenster hat ihre Augen mit schwarzem Kajal eingekreist, und ich schaue viel zu lange in die Kreise, bis die Frau plötzlich lächelt. Ihr Blick trifft mich mit voller Wucht. Aber ich weiß nicht, ob sie wirklich mich meint oder das Leben im Allgemeinen. Wir sind keine Kunden, sondern nur zwei neugierige Touristen mit leichten Rückenschmerzen.

Ein Mann mit Hufeisenschnurrbart hat keinen Rucksack dabei, keine Kamera und keinen Stadtplan. Aber er hat Lust und Geld.

«Ho’ much?», fragt er eine Frau mit aufgemalten Augenbrauen.

«Too much», antwortet sie.

Der Mann humpelt zum nächsten Fenster, wo Peitschen und knallrote Knebel in drei Größen bereitliegen. Da liegen auch noch Nippelklemmen, mit denen man notfalls die nasse Wäsche aufhängen kann. Doch die Domina ist nicht da, sie versohlt Hintern im Hinterzimmer, verziert Gänsehaut mit rötlichen Striemen.


Aber genug gegafft. Wir schieben unsere Körper vorbei an anderen Körpern und gehen rüber zum Anne-Frank-Haus – eine andere große Attraktion in Amsterdam. Dort ist die Menschenschlange aber so lang, dass wir das Haus nur von außen anschauen. Es sind einfach zu viele Rücksäcke, zu viele Brillen, zu viele Funktionsjacken. Der Reiseführer weiß, dass wir natürlich Wochen im Voraus hätten reservieren müssen. Doch da kannte ich meine Freundin noch gar nicht.

Viele der schmucken Grachtenhäuser sind ein wenig nach vorn geneigt. Op Vlucht nennt sich dieses besondere Baumerkmal. Dadurch können die Trinker ihre Weinflaschen mit dem Flaschenzug in den dritten Stock ziehen, ohne dabei das Haus zu taufen. Ein kräftiger Windstoß würde genügen – und der Rotwein liefe die Wand hinunter.

Hinter einem der hohen Fenster hält ein kleiner Terrier Ausschau nach seinem Frauchen. (Sein Herrchen hängt hinter ihm am Kreuz an der Wand; die Sonne scheint dem dürren Männchen voll ins Gesicht.) Als der Hund uns entdeckt, beginnt er ein verzweifeltes Gebell: In wenigen Sekunden ist das rauhaarige Tier völlig außer sich, springt hin und her und fletscht die Zähnchen.

«He’s insane, and very lonely», erklärt eine ältere Frau, die mit ihrem Ehemann vor dem Haus sitzt. Sie strickt, während er Kreuzworträtsel löst. Manchmal tauschen sie. Über ihnen wacht der kleine Terrier, der sich schon wieder beruhigt hat. Er kann nicht mehr.

«His name is Arthur», ergänzt der rätselnde Ehemann.

Der Hund schaut aus dem Fenster, hält weiterhin Ausschau, voller Hoffnung und Sehnsucht.

Yeti hat immer Vorfahrt

Die Menschen, die durch die Straßen streifen, sie gucken nicht auf den Boden – sie müssen stets auf Radfahrer achten. Jeder gute und schlechte Reiseführer weiß zu berichten, dass es in Amsterdam mehr Fahrräder als Autos gibt. Mehr als die Hälfte der Bewohner pendelt mit dem Rad zur Arbeit – und tatsächlich fahren hier alle mit dem Rad, transportieren auf ihren Gepäckträgern sogar Sperrgut, große Blumen und hungrige Freundinnen. Mädchen auf dünnen Rennrädern rauschen über die gebogenen Brücken, vorbei an schrottreifen Mühlen mit verbogenen Felgen.

Da wollen wir mitmachen und buchen zwei Plätze bei Mike’s Bike Tours, zahlen 44 € für zwei Räder und ein paar unterhaltsame Stunden. Die gebuchte City Tour beginnt in der Kerkstraat. Wir sind insgesamt sechzehn Leute aus Amerika, England, Australien – und wir beide aus Deutschland. Zwei kleine Frauen kommen aus Singapur. Radfahren können sie nicht, sagen sie und kichern eine Weile. Hihihi. Sie trauen sich aufs Fahrrad, das erste Mal in ihrem Leben. Sie lernen das jetzt und hier, in Amsterdam und ohne Stützräder. Sie tragen keine Helme auf den Köpfen, aber Stöckelschuhe an den kleinen Füßen.

Ich ahne, dass sie uns in Schwierigkeiten bringen werden.

Viele der Grachtenhäuser sind ein wenig nach vorn geneigt. «Op Vlucht» nennt sich dieses besondere Baumerkmal.

Mike ist heute nicht bei uns. Vielleicht existiert Mike nicht, vielleicht ist Mike nur eine Marketing-Erfindung, weil sich «Mike» so schön auf «Bike» reimt.

Unser Tourguide heißt Jeff, er empfiehlt uns, LSD zu kaufen und es im Vondelpark zu essen.

«Aber lasst bloß eure Portemonnaies zu Hause!», warnt er.

Bevor wir losfahren, erklärt er uns schnell die Regeln, die auf den Straßen von Amsterdam gelten: Es gilt kein stumpfes «rechts vor links», sondern es gilt, den Flow nicht zu stören. Das sei wichtig, setzt bei den Radlern aber voraus, dass sie sich in die Augen schauen, mitdenken und vorausschauend fahren und wissen, was an der nächsten Kreuzung passieren wird. Sie müssen ein gutes Gespür für den Verkehrsfluss entwickeln, bis sie einschätzen können, in welchen Situationen sie beschleunigen sollten und in welchen lieber nicht.
Blinken geht mit den Armen: links raushalten, rechts raushalten.

«Aber nicht so», sagt Jeff und streckt den Arm schräg in die Luft. Hitler lässt grüßen.

Nach der knappen Einweisung sind wir plötzlich mittendrin im Stadtverkehr. Die Sonne scheint, unsere Wimpern werfen lange Schatten. Es ist schön, den Fahrtwind und das warme Sonnenlicht auf der Haut zu spüren.

Für die einheimischen Radfahrer dürften Touristen auf ihren Leihrädern allerdings der blanke Horror sein: Sie haben kein Gespür für den Flow und bringen ihn völlig durcheinander. Anstatt beherzt in die Pedale zu treten, bremsen sie ab und stehen unsicher im Weg und verstopfen die Straßen – so machen es auch die beiden winzigen Frauen aus Singapur. Und sie rammen ein Auto, eine Schwangere, andere Radfahrer. Wenn es über Brücken geht, beschleunigen sie nicht, sondern bleiben einfach stehen. Kippen um. Und dann kichern sie wieder: Hihihi. Ein großer Spaß!

Irgendwann halten wir auf der Torensluis-Brücke, die die Singel-Gracht überspannt und Amsterdams breiteste und älteste Brücke ist. Jeff erzählt, was er über Amsterdam auswendig gelernt hat. Das erzählt er mehrmals die Woche. Immer mit den gleichen Witzen, den gleichen Pointen. Doch dann regt sich Jeff spontan über einen Texaner auf, der an die Bibel glaubt – für Jeff nichts als «fucking fiction», deshalb kann er’s nicht lassen, ein paar Witze über Jesus zu reißen, dieses magere Herrchen am Kreuz, dem die Sonne ins Gesicht scheint.

Ich glaube auch nicht an Jesus – aber an Yeti. So heißt mein Fahrrad, sein Name steht auf dem vorderen Schutzblech. Yeti befördert mich durch die Stadt, vorbei an Coffee-Shops, die nach Entspannung riechen, vorbei an kleinen Läden und großen Menschenmengen. Links und rechts rollen andere Fahrräder, überholen und klingeln sich den Weg frei. Meine Gangschaltung hakt, die Bremsen quietschen. Vor mir laufen Touristen in hässlichen Sandalen. Neben mir fährt Tim aus England. Er hat einen schwarzen Lederhut auf dem Kopf, eine langweilige Brille auf der Nase und einen lockigen Bart im Gesicht. Seine Frau Jamie trägt einen faltigen Rucksack auf dem Rücken und darin die ganze Unschuld, die sie finden konnte. Hinter mir streiten Jeff und der Texaner; vor mir fahren die beiden Mädchen aus Singapur in Schlangenlinien die Straße entlang.

Wir sind schon eine sonderbare Truppe.


Am späten Nachmittag endet unsere Tour an der Molen de Gooyer. Das ist eine alte Windmühle, die nicht weit vom Stadtzentrum entfernt liegt. Hier trinken wir Bier und essen Käsewürfel. Jeff lässt sich ein paar Getränke ausgeben und versorgt uns im Gegenzug mit Tipps zum Drogenkauf. Tim schreibt eifrig mit. Hihihi.

Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ins Wasser fallen

Am Abend essen wir spät im van Kerkwijk, einem kleinen Café-Restaurant, das sich in einer engen Seitenstraße in der Nähe des Dam befindet. Wir sitzen an der Bar und warten auf einen freien Tisch – reserviert haben wir nicht. Über uns schimmern die Kronleuchter, auf dem Tresen steht Bier von der kleinen IJ-Brauerei.

Zwei Schwestern betreiben das Restaurant, in dem in einer kleinen Nische gekocht wird. Hier geht es locker zu, die Schwestern verzichten auf gedruckte Speisekarten und erzählen den Gästen lieber persönlich, was es heute zu essen gibt.

Ich verstehe «Steak» und bin glücklich, dann geh ich pinkeln. Die Toilette ist in der Hölle. Ich steige die Treppe hinab, vorbei an blutroten Wänden. Ein leises Stöhnen der Verdammten ist zu hören. Es ist eng und heiß. Und es brennt. Was auf schlimmste Syphilis hindeutet, erklärt ein Mann einem anderen am Urinal stehend.

Nach dem späten Essen treten wir die kühle Nacht. Das Steak war vorzüglich, zum Nachtisch hatten wir warmen Birnenkuchen. Wir sind die letzten Gäste, hinter uns schließen die Schwestern die Tür ab. Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht ins Wasser fallen: Die Kanäle, die durch die Stadt fließen, sind nicht durch Geländer geschützt. In Amsterdam ist jeder für sich selbst verantwortlich, auch die Trinker und Touristen.

In den Grachten ertrinken weniger Männer, seit es überall Pissoirs gibt, hat Jeff uns erzählt. Vorher haben die Besoffenen einfach ins Wasser gepisst, und manchmal sind sie dabei umgefallen und besoffen ersoffen. Wir schaffen es trocken zur #17 und nach Hause.

Keine Grachtenfahrt

An einer Bude kaufen wir zwei Tickets für eine Bootstour durch die Grachten. Die Wartezeit verbringen wir in einer Bar, die auch ein Café sein will und sich direkt an der Anlegestelle befindet. Gäste sind dort keine, da steht nur ein Mann hinter der Bartheke, der uns zwei teure Biere verkauft. Immerhin serviert er die zwei «small Heinecken» in Gläsern. Mit einem flachen Messer streift er den Bierschaum ab; er klatscht ins Waschbecken. Nachdem er die Gläser auf dem Tresen abgestellt hat, widmet sich wieder dem Fernseher. Er schaut Eurosport, sie spielen Darts. Nebenbei putzt er sorgfältig seine Brille.

Wir setzen uns in eine Nische und reden leise, damit wir den Bartender nicht stören. Die roten Barhocker wirken traurig, wie sie da herumstehen und keinen Zweck erfüllen. An den Wänden hängen falsche Van Goghs: Caféterrasse am Abend, Die Kartoffelesser, Selbstbildnis mit Heinecken.

Ein nasser Abend ist angebrochen, leise prasselt der Regen gegen das Fensterglas. Draußen braust der 48er vorbei.

Der Boden unter unseren Füßen klebt. Die Nutzung der Toilette kostet 50 Cent, die ein Automat gierig verschlingt. Die Bar, die auch ein Café sein will, ist ein trauriger Ort und wir sind froh, ihn wieder verlassen zu dürfen, während der Barmann bis in alle Ewigkeit bleiben muss.

Und da fährt es, unser Boot verschwindet in der Dunkelheit. Ohne uns. Wir sind einige Minuten zu früh – und doch zu spät. Schulterzucken bei den Kerlen, die an der Kaimauer stehen und ins Wasser pissen. Sie schicken uns zum «Boss», der in einer dunklen Ecke des Bar-Cafés sitzt und Sushi aus einer Plastikbox isst. Er hat seine paar Haare nach hinten gegelt und trägt einen Anzug, der irgendwie schräg sitzt und große Falten wirft. Der Boss sieht aus wie ein Konfirmand, der zu oft Der Pate gesehen hat. Ihm gehören drei Schiffe, erklärt er, ohne dass wir das wissen wollten. Zwischen seinen Zähnen hängt roher Fisch.

Und was ist jetzt mit uns?

Interessiert den Boss nicht, er scheint sogar amüsiert. Wir können ja das nächste Boot nehmen, in einer Stunde, sagt der Boss gelangweilt und spießt mit seiner Gabel ein Reisröllchen auf. Es ist kurz sehr still, dann atme ich aus. An der Ticket-Bude holen wir unser Geld zurück – und gehen lieber ins Museum.


Das Sex-Museum Venustempel am Dam erinnert an einen alten Jahrmarkt. Die nackten Schaufensterpuppen schauen die Besucher mit ihren toten Augen an, wie die gruseligen Figuren in einer Geisterbahn. Hier und da blättert der Lack ab, unter ihrer Haut ist alles weiß. In einem schwarzen Raum sind ein paar SM-Bildchen aus den frühen 90er-Jahren ausgestellt. Leder, Fesseln, haarige Bäuche. In den anderen Etagen des verwinkelten Gebäudes gibt es Teller mit nackten Menschen drauf und noch mehr Fotografien. An der Treppe hängt ein Arsch, der jeden Besucher im Vorbeigehen anfurzt. Hihihi. Überall liegt ein muffiger Geruch in der Luft – sinnlich oder erregend ist das Museum wahrlich nicht, nur ein bisschen lustig und skurril, aber das Eintrittsgeld von 4 € letztendlich nicht wert1. (Den muffigen Geruch habe ich noch Stunden später in der Nase.)

  1. Inzwischen sind es offenbar satte 10 €! Die würde ich lieber in LSD investieren. (…) Quatsch, ich würde mir im Athenaeum ein schönes Magazin kaufen.

Vaarwel, Amsterdam!

Auf dem Weg zum Centraal. Wir sind spät dran und auch die Tram ist unpünktlich. Die #17 Richtung Zentrum ist nirgends zu sehen. An der Haltestelle hält nur ein Taxi und will uns verführen: Wir brauchen nur in den schwarzen Mercedes zu steigen und alles wird gut. Doch bestimmt würden uns die vielen roten Ampeln aufhalten. Die Staus. Die Unfälle. Die verstopften Straßen voller Radfahrer, die sich an den Autos vorbeischlängeln.

Das Taxi wartet noch ein paar Augenblicke und gibt uns eine letzte Chance. Doch wir bleiben stehen und bereuen das ein wenig, als das Taxi schließlich abbiegt und die #17 weiterhin auf sich warten lässt.

Der Himmel ist hellgrau und die Sonne scheint hinter den Wolken als heller Kreis. Autos fahren vorbei, Fahrräder und brüllende Mofas. Nur wir bewegen uns nicht. Fühlen die Panik in unseren Bäuchen lodern. Warten heißt welken.

Wir bleiben einfach hier und übernehmen Niccolos Wohnung, seine Arbeit, sein Leben. Jeden Morgen mit dem Rad ins Büro, immer mit dem Flow an den Kanälen entlang. Ich könnte mich daran gewöhnen, es wäre ein schönes Leben. Dann kommt die Tram doch noch, eigentlich schade.


In der #17: Wir sitzen ganz hinten. Unser IC fährt in zwanzig Minuten ab, die Fahrt zum Bahnhof dauert fünfzehn Minuten – wenn nichts dazwischenkommt. Uns bleiben im besten Fall also fünf Minuten, um aus der Tram zu springen, über den Bahnhofsvorplatz und durch den Bahnhof zu laufen und in den Zug zu steigen. Dann reißen meine Gedanken jäh ab, ein Hund unterbricht meine Berechnungen, weil er laut bellt – das gibt richtigen Druck auf den Ohren. Es ist Arthur, der rauhaarige Terrier, der da schon wieder in Rage gerät. War er uns gefolgt?

Arthur bellt mit wütender Leidenschaft und bäumt sich auf. In seinem Hundeherzen lodern die Flammen, Hunde sind nicht gemacht für die Straßenbahn – Hunde wollen über weite Felder toben und Hasen jagen und ihnen die Köpfe abbeißen. In der Tram gibt es keine Hasen, nur Menschen mit Einkaufstüten – und diese eine sonderbare Frau, die ausgerechnet neben mir sitzt und an meinen Haaren schnuppert. Dann legt sie ganz sanft ihren Kopf auf meine Schulter.

«Alles wird gut», summt sie, «lass es geschehen.»

Aus ihrer pinken Handtasche ragt eine leere Schnapsflasche ohne Deckel. (Wie eine alte Dame, die ihren Hut im Wind verloren hat.) Der scharfe Atem der Frau wabert in meine Nase. Ihre Augen fallen zu. Die Luft ist warm und trocken. Und Arthur bellt laut und lauter.