Short Story

Schmiedel muss gehen

Zweiundzwanzig Jahre auf diesem Stuhl – und plötzlich ist Schluss: Frau Schmiedel muss gehen, weil ein Pferde-Mädchen ihren Job übernehmen will.

Seit zweiundzwanzig Jahren saß Iris Schmiedel auf diesem Bürostuhl. Als sie am Vormittag das ausgelassene Gelächter hörte und kurz darauf Julia-Maria Beier aus dem Büro des Chefs kommen sah – da wusste Frau Schmiedel, dass es vorbei war.

Hahaha!

Seit zweiundzwanzig Jahren schrieb sie Rechnungen und Mahnungen, sortierte Aufträge und ging zwischendurch gut gelaunt ans Telefon: «Holzwerkstatt Schmackes – Schmiedel am Apparat.»

Fünf Stunden am Tag tat sie das, montags bis donnerstags, von 8 bis 13 Uhr. Freitags hatte sie frei, da löste sie Kreuzworträtsel und schrieb Gedichte. Nachmittags fuhr sie mit dem Rad zur Koppel am Ortsausgang und beschimpfte dort die Pferde von Bauer Beier. Und wieder von vorn, montags bis donnerstags, 8 bis 13 Uhr. Noch drei Jahre bis zur Rente.

Hahaha.

Die verwöhnte Stute hieß Mango und verlangte nach täglicher Anerkennung

Nachdem Julia-Maria das Büro vom Chef verlassen hatte, hing ihr süßlicher Duft noch ein paar Minuten in der Luft. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und ihr missfiel der Gedanke, einer anstrengenden Lohnarbeit nachzugehen. Das gab sie ganz offen zu. Ihre Freizeit füllten viele Vorhaben: Ihre verwöhnte Stute hieß Mango und verlangte nach täglicher Anerkennung. Deshalb wollte Julia-Maria unbedingt in der Firma ihres Ehemanns arbeiten, drei Stunden pro Tag; vielleicht würden auch zwei genügen – und nie montags, da bekam Mango seine Massagen.

Julia-Maria Beier wollte den Job von Iris Schmiedel. Der Einfachheit halber.


Ihr Ehemann war der neue Chef. «Aber nennt mich Jonas», hatte Herr Beier der Belegschaft sofort angeboten. Jonas Beier hatte die Holzwerkstatt jüngst vom alten Gustav Schmackes übernommen. Der wollte seit zwanzig Jahren nicht mehr, hatte aber tapfer durchgehalten.

Ganz am Anfang, als Gustav noch auf seine Gesundheit geachtet hatte, war das anders gewesen. Er und sein Vater Eberhard Schmackes waren die erfolgreichsten Schreiner im Ort gewesen, es gab immer viel zu tun. Doch Eberhard starb viel zu früh bei einem grotesken Arbeitsunfall – noch Wochen später fanden seine Gesellen verschrumpelte Finger unter der Werkbank, wie bei einem morbiden Puzzle.

Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters hatte Gustav Schmackes keine Lust mehr auf den Holzgeruch am Morgen. Trotzdem hatte er das Familiengeschäft übernommen und seine Arbeit bis zur Rente erledigt – hauptsächlich wegen Iris Schmiedel. Die fand er hübsch, lustig und klug, er konnte immer ein wenig schwärmen. Sein «Schmiedelchen» hatte schließlich die gesamte Buchhaltung übernommen – worüber Gustav heilfroh gewesen war, denn Zahlen fand er fürchterlich. Sein Vater hingegen war ein enthusiastischer Kopfrechner gewesen: Abends rechnete Eberhard Schmackes aus purer Freude vor sich hin, addierte und subtrahierte, multiplizierte und dividierte wie ein verrückter Taschenrechner. Doch nun war Eberhard auch schon seit zwei Jahrzehnten tot, und Gustav seit Kurzem nicht mehr der Chef in der Holzwerkstatt Schmackes.

Jonas Beier, der das angesehene Familienunternehmen als Externer übernommen hatte, wollte jetzt vieles besser machen: Die Arbeitsabläufe effizienter gestalten, Prozesse optimieren und Ballast abwerfen. Kurz vor ihrem Feierabend traute er sich endlich; der neue Chef schlüpfte aus seinem Chefbüro, räusperte sich, um sich der Aufmerksamkeit von Iris Schmiedel sicher zu sein. Etwas nervös wirkte Jonas, als er sich auf den kippelnden Holzschemel hockte, der als Dekostück vor Schmiedels Schreibtisch herumstand. Den Schemel hatte sie zum Fünfzigsten von Gustav geschenkt bekommen. Natürlich handgeschnitzt!, hörte sie den alten Schmackes stolz sagen. Ein schönes Stück, das aber ganz schön kippelte. Zum Sitzen war es eigentlich nicht geeignet.

Jonas Beier räusperte sich abermals und dann sagte er es endlich: «Frau Schmiedel, leider ist es so», begann er – und Iris wusste längst Bescheid. «Es ist leider so, Frau Schmiedel, dass ich Ihre Dienste nicht mehr benötige.»

Frau Schmiedel schwieg.

«Was Sie hier täglich machen, erledigt unsere neue Software in wenigen Sekunden. Die hat künstliche Intelligenz und USB-C.»

«Neue Software», murmelte Iris.

«Es ist wirklich so», beharrte Jonas Beier. Es tue ihm sehr leid und sie bekomme das später auch noch schriftlich mitgeteilt, fürs Arbeitsamt.

Als Jonas Beier hektisch aufstand, kippte der Schemel um. Doch Jonas ignorierte das und verließ eilig das kleine Gebäude und dann das Firmengelände. Iris Schmiedel verweilte in der plötzlichen Stille. Es war ein erstaunlich ruhiger Tag, geradezu friedlich.

So viel Arbeitszeit war vergangen, so viele Stunden waren verstrichen. Als Frau Schmiedel in der Holzwerkstatt Schmackes angefangen hatte, wollte sie eigentlich nicht lange bleiben. Sie wollte erst mal Geld verdienen, dann aber rasch etwas Anderes machen – nur was eigentlich?

Schließlich war sie geblieben, all die ganzen Jahre. Sie war da, als es der Firma schlecht gegangen war, und sie war da, als der wichtigste Auftrag in der Firmengeschichte die Holzwerkstatt gerettet hatte. Gustav Schmackes hatte damals Apfelsaft bei Aldi gekauft und sie hatten fröhlich angestoßen. Zweiundzwanzig Jahre, und jetzt war’s das einfach. Zweiundzwanzig Jahre auf diesem Stuhl, an diesem

Schreibtisch, in diesem Büro. Ein Windhauch.

Frau Schmiedel seufzte. Sie stellte den Schemel wieder an seinen Platz und machte danach einfach weiter.

(29022024-1706)