2023: Wrapped – Mein Jahresrückblick

Das Jahr 2023 beginnt auf Sylt. Dorthin reisen wir im Januar mit dem Zug – eine geniale Idee: Es sind wenige Touristen auf der Insel, aber doch genug, dass Restaurants, Läden und Cafés geöffnet sind. Außerdem ist Sylt einfach schön – die Landschaft, das Licht, die Dünen und das Meer. Die paar reichen Trottel, die mit ihren Bentleys durch die Gegend fahren – na ja, die lassen sich gut ignorieren. Ebenso die Steppwesten-Rentner, die immer so wirken, als seien sie den ersten Tag auf dieser Welt. Staunend stehen sie im Weg und erschrecken, wenn man sich ihnen nähert, sie überholt. Und immer schimpfen sie über irgendwas.

Wer im Januar nach Sylt fährt, hat die Strände für sich. Und das Wetter war auch fantastisch, LOL.

Wir verleben eine entspannte Zeit; wir spazieren durch den Sand, lassen uns von der Wintersonne blenden. Ich esse eine teure Currywurst in der «Sturmhaube», trinke Flat White in der «Kaffeerösterei Sylt» und mampfe Pizza in List. Unsere Pizzen müssen wir allerdings im Freien essen, weil in der kleinen Pizzeria seltsame Corona-Regeln gelten – versteht kein Mensch, also sitzen wir eben auf einer Mauer und mampfen Pizza im Sonnenlicht. Genießen den Meerblick. Trotz kalter Luft ist das Wetter erstaunlich gut. Es sind helle Tage im Januar und wir erleben einen gelassenen Jahresbeginn. Rückfahrt dann wieder mit Maske, damit ist bald Schluss.

Abschied

Im April stirbt meine Oma, sie ist 82 Jahre alt geworden. Ich besuche sie einige Male im Krankenhaus, bei meinem letzten Besuch geht es ihr plötzlich besser. Sie meint, dass wir uns das nächste Mal bei ihr Zuhause sehen werden. Sie freue sich, endlich rauszukommen. ··· Die Beerdigung im engsten Kreise findet im Wald statt. Der Baum, neben dem meine Oma ihre letzte Ruhe findet, leuchtet saftig grün. Wir stehen an ihrem Grab zwischen den Bäumen und nehmen Abschied. Sie war ein lieber Mensch. Sie war die liebste Oma.

Abwarten

Die nächsten Monate warten wir ab. Der ET rückt immer näher, der «errechnete Termin» zur Geburt unseres Sohnes. Beim Geburtsvorbereitungskurs erklären sie, was alles passieren wird und was passieren könnte. Die anderen angehenden Eltern sind Kopien von uns: Weiße Almans – und alle sind Produktmanager oder Prozessoptimierer. Hehe, ich übertreibe – das waren alles sehr freundliche Leute! Jedenfalls habe ich (endlich) kapiert, wie so eine Geburt abläuft, so ganz im Detail. Und dann kam doch alles anders.

3D-Rorschachtest: Wer hier ein niedliches Gesicht erkennt, ist kein Psychopath.

Irgendwann ist der ET erreicht, doch der Termin verstreicht, wir müssen weiter warten. Also machen wir genau das. Regelmäßig fahren wir ins Krankenhaus, die machen ihre Messungen, alles sieht gut aus. Der Juni bricht an, die Hitze kommt. Und dann ist unser Sohn plötzlich da, von einer Sekunde auf die andere. Buchstäblich, denn er kam kaiserlich zur Welt, es war am Ende der beste Weg. Die Dinge laufen also nicht, wie wir uns das gewünscht haben – doch am Ende geht das alles gut und die Leute im Krankenhaus sind freundlich und hilfsbereit, aber auch anstrengend: Ständig möchte jemand etwas von uns! Morgens wache ich verballert auf, da steht schon irgendeine Ärztin neben dem Bett und erklärt meiner Frau … irgendwas.

Immerhin darf ich hier sein, die Familienzimmer sind rar und heiß begehrt. Doch für Langschläfer sind Krankenhäuser nichts. Sechs Tage verbringen wir auf Station 6, in dieser seltsamen Welt. Es sind die heißesten Tage des Jahres, die Welt draußen steht in Flammen. Zwischendurch trete ich zurück in die normale Welt, um bei Edeka süßen Quatsch zu kaufen. Stehe da an der Kasse. «Deutschlandkarte?» – «Ne.» Wir sind so froh, als wir nach Hause dürfen.

Eltern also

Meine Frau und ich sind nun Eltern, und ich habe zunächst drei Monate Elternzeit – die besten Sommermonate, Juni bis Anfang September. Wir gehen in diesen Wochen sehr viel spazieren, denn der Sohn schläft tagsüber eigentlich nur in der Trage und nie im Kinderwagen. Nur einmal versehentlich, da haben wir es fast bis um den kompletten Maschsee geschafft. Ansonsten aber klebt er an uns, das ist schön, aber auch anstrengend. Meine Frau geht zur «Rückbildung», während ich mit dem Sohn durch den Wald spaziere, marschiere, stapfe. Der Regen fällt auf die Blätter, der Boden ist glitschig und nass. Wasser läuft die Baumrinden herab, der Wind fegt durch die Blätter. Ein Rascheln, ein Rauschen, ein Schmatzen. Der Sohn liebt das, schläft tief und fest. Es kann keinen schöneren Moment geben, als um halb zehn Uhr durch den Wald zu latschen, ohne Ziel, ohne Aufgabe, ohne Termindruck. Nasse Füße, nasse Socken, nasse Hose: ganz egal.

Nach einigen Wochen gibt es diesen Moment am Maschsee, als meine Frau und ich samt Sohn aufs funkelnde Wasser schauen und nebenbei Flat White und Chai-Latte schlürfen. Um uns tobt das Leben: Skater, Radfahrer, Leute mit Kindern. Flaneure und Kaffeeverkäufer mit ihren Siebträgern. Lachende Leute, bellende Hunde. Und wir drei, übermüdet, einigermaßen fertig mit den Nerven, aber doch glücklich, hier zu sein.

Wir versuchen, alle Dinge richtigzumachen: Den Sohn ausreichend zu füttern, ihn zu beruhigen, ihn zu baden, ihm ein schönes Zuhause zu schaffen. Und eine Million andere Dinge. Täglich schaut unsere Hebamme vorbei, zeigt uns, wie das alles geht. Zwei Fehler pro Tag seien erlaubt, beruhigt sie uns.

Jahresrückblicke

In einer Nacht stehe ich am Fenster und schaue raus in die schlafende Welt. Alle machen weiter, als wäre nichts, und wir müssen das jetzt hinbekommen. Es gibt kein Zurück. Kein Rückgaberecht. (Nur die Babyklappe?) Nach ungefähr sechs Wochen läuft alles schon viel besser. Der Anfang war hart und schwer, anstrengend und überwältigend. Doch alles ist nur eine Phase. Und dann kommt auch schon die nächste.

Arbeit

Nach drei Monaten Elternzeit wieder zu arbeiten, das ist eine eigenartige Erfahrung, die ich Anfang September mache. Als ich vor neun Jahren nach einem Monat in Hamburg an meinen Schreibtisch in Hannover zurückkehrte, saß ich da und war schlicht schockiert: Es hatte sich nichts verändert. Die Kollegen tippten ihre Texte, tranken ihren Kaffee, machten ihre üblichen Scherze. Alles wie immer. Business as usual.

Nach den drei Monaten Elternzeit erging es mir ähnlich, aber doch anders: Erstens war mein erster Arbeitstag ein Freitag (seltsam); zweitens blieb ich im Homeoffice (angenehm), was den Wechsel deutlich abgemildert hat. Doch eine neu eingeführte Präsenzpflicht bedeutet, dass ich weniger flexibel sein kann – ein Umstand, der mir erstaunlich stark missfällt. Außerdem sollen nun wieder Dinge wichtig sein, die ich drei Monate lang verdrängt habe. Termine, Meetings, Kollegen. Deadlines, Hierarchien, Regeln. Und E-Mails, unendlich viele E-Mails. An diesem Freitag geht es abends noch auf eine Hochzeit. Es ist die erste Feier mit Sohn, und er macht die Sache gut: Er betrinkt sich hemmungslos (mit Muttermilch).

Kein komischer Rucksack, sondern eine Babytrage (mit Baby). In der Tasche vorn kann man Snickers verstauen – praktisch!

Es folgen weitere Premieren: Der Sohn fährt das erste Mal Zug (als Passagier), Regionalbahn, IC und ICE. Das Babyabteil im Schnellzug ist genial, da haben wir unsere Ruhe und müssen kein schlechtes Gewissen haben, wenn der Sohn mal laut weint. Kreischt. Jault. Im Oktober nehmen wir den Zug an die Küste, an den Timmendorfer Beach. Der Sohn liebt, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen. Ich mag den Ort allerdings nicht, ich will zurück nach Westerland .

Stattdessen geht es später nach Goslar. Als wir dort ein Restaurant betreten, murmelt eine ältere Frau: «Schön, auch mal mit Baby essen zu gehen.» Der Sohn möchte dann die Tischmatte verspeisen – aber lieber nicht. Nächstes Jahr folgen dann weitere sechs Monate Elternzeit. Dann werden wir auch wieder in den Wald gehen.

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Daniel Berger ist Tech-Journalist in Hannover, er schreibt Artikel über das Internet. Außerdem bloggt er Stadtgeschichten über Hannover. Mehr