Short Story

Beruf: Hellseher

Roland Riemann nennt sich «Sauron der Seher» und schaut für seine Klienten in die Zukunft. Dort lauert der Tod: überfahren vom Linienbus.

Der Hellseher hieß Roland Riemann, er nannte sich aber «Sauron der Sehende». Seine Klienten empfing der Seher montags bis mittwochs in seiner Einzimmerwohnung unterm Dach; donnerstags und freitags musste er sich um seine senile Mutter kümmern. (An den anderen Tagen übernahm das sein Zwillingsbruder Ronald Riemann.) Die Mutter der Riemann-Brüder musste gründlich gewaschen und gewachst werden, außerdem verlangte sie, dass die «Sohnemänner» ihr sämtliche Wirtschaftsartikel aus der Zeitung vorlasen. Aber bitte «klar und deutlich und langsam».

Roland (der Seher) hatte allerdings hartnäckige Schwierigkeiten mit der ordentlichen Aussprache. Seit seiner Kindheit neigte er dazu, selbst die einfachsten Wörter falsch zu betonen und grob zu vernuscheln. In seinem Beruf als Hellseher war sein sprachlicher Makel allerdings von Vorteil: Seine Vorhersagen murmelte er ebenfalls undeutlich in die Ohren seiner Klienten, die auch nur dreimal darum baten, das Gesagte zu wiederholen, bevor sie aufgaben und das Gemurmel einfach hinnahmen. Sie interpretierten einfach ihre eigenen Visionen in die Worte des Sehers (der auch gar nicht teuer war).


Saurons treueste Klientin hieß Martina Krause, 52 Jahre alt, stets ordentlich frisiert und unscheinbar gekleidet. Martina hatte seit ihrer späten Kindheit eine irrationale Angst, von einem Linienbus überfahren zu werden; ein Bus der Linie 121 sollte es sein, der sie eines Tages ins Jenseits befördern würde – so zumindest ihre düstere Vision. Inzwischen kam sie jede Woche zu Sauron, den sie erstaunlich ernst nahm, und fragte ihn wie immer ganz zum Schluss: «Wie sieht es aus – wird mich der Bus erwischen?»

Es war mitten im Hochsommer, als der Seher plötzlich sagte: «Ja!»

Martina, die halbtags als Magnet arbeitete, hatte aus rechtlichen Gründen keinen Führerschein und war daher ausgerechnet auf den Bus angewiesen. Mit ihrem Klumpfuß war sie zu langsam, deshalb hatte sie seit ihrer Kindheit eine verbilligte Monatskarte für den ÖPNV. Immerhin brachte sie der 121er bis vor ihre Haustür, und sie kannte alle Fahrer beim Namen: Dimitri (der Schöne), Sandra (die Stille), Gerald (der Behinderte) und Ingmar (der Neue). Martina und der Bus – das war eine leidenschaftliche Hassliebe.


Roland war an diesem heißen Mittwoch nicht gut gelaunt. Es war stickig und muffig bei ihm, er hatte schlecht geschlafen und schlecht geträumt und schlecht geschissen. Seiner Mutter ging es auch dreckig und er ahnte, dass der nächste Tag anstrengend werden würde. Wenn er bei ihr saß und ihr vorlas, und seine Mutter nur über Ausländer schimpfte und sich die Stunden klebrig in die Länge zogen.

Illustration eines Muffins

Martina Krause hatte dem Seher mal wieder einen selbst gebackenen Muffin mitgebracht, der auf seinem Couchtisch stand. Roland mochte den Muffindeckel, den Rest aber nicht. Den weichen Teigstumpf würde er wegwerfen.

Martina schaute den Seher erwartungsvoll an, sagte: «Heiß heute.»

Er bejahte lustlos.

Sie fragte dies und das: Ob sie endlich einen Mann kennenlernen würde; ob sie im Lotto gewinnen würde; ob ihre Bauchschmerzen endlich enden würden. Sauron der Seher antwortete dreimal mit «nein».

Als die allwöchentliche Busfrage kam, sagte er jedoch: «Ja!»

Martina wurde leichenblass. Damit hatte sie nicht gerechnet, nicht heute. «So eine Scheiße.»


Nachdem sie endlich gegangen war, ließ Roland sich aufs Sofa fallen und rührte sich für mehrere Stunden nicht mehr vom Fleck. Immer musste er sich Gedanken über die Zukunft anderer Leute machen. Und wer dachte zur Abwechslung mal an ihn – an seine Zukunft? Tja. Sein Leben ging jedenfalls weiter. Aber Martina, seine treueste Klientin, brachte ihm keine Muffins mehr.


Diese Story ist in leicht veränderter Form und unter dem Titel «Sauron, der Seher» in der Literaturzeitschrift Hahnepeter erschienen – zu finden in Ausgabe 8 (Frühjahr 2024).