Es sind einfach zu viele. E-Mail-Adressen meine ich. Ich habe Dutzende davon, die ich gar nicht brauche. Darunter befindet sich auch ein ungenutztes Postfach bei Google, also eine Gmail-Adresse. Inzwischen weiß ich, dass mein Google-Nutzername ein regulärer Nachname ist. Als ich die Adresse vor vielen Jahren anlegte, hatte ich nur ein mittelmäßiges Wortspiel mit meinem Nachnamen im Sinn – und jetzt das: Ich bekomme regelmäßig E-Mails von Menschen, die meine Adresse nutzen, weil sie denken, es wäre ihre. Dabei ist es meine.
Da ist zum Beispiel Chantal H.: Die Französin lebt in Issy-les-Moulineaux, südwestlich von Paris. Sie hat einen Telefonvertrag bei Bouygues Telecom abgeschlossen, und zwar den Tarif «40Go». Ihre Telefonnummer beginnt mit 0681. Ich weiß das alles, weil Chantal wohl versehentlich meine E-Mail-Adresse bei der Anmeldung angegeben hat. Ich erhalte deshalb alle Mails von ihrem Mobilfunkanbieter, die eigentlich an Chantal gehen sollten. Wahrscheinlich müsste ich jemandem Bescheid sagen, aber ich kann kein Französisch.
Die Gemeinde Saint-Louis liegt in der Nähe von Basel, gehört aber zu Frankreich. In diesem Ort lebt Chloé, 34 Jahre alt. (Ihre Mobilfunknummer beginnt mit 69.) Sie hat per Mail ihren neuen Vertrag nicht erhalten: Chloé ist Mitglied bei La Suite, einem Wellness- und Sport-Center im Gewerbegebiet von Saint-Louis, 4,5 Sterne bei Google. Das Abo läuft ein Jahr und kostet monatlich 119,90 Euro. Sie hat die Option «Getränke unbegrenzt» hinzugebucht – Sport macht schließlich durstig. Die Rechnung ging an meine Mail-Adresse, aber ich werde sie nicht begleichen.
In Poway, Kalifornien, gibt es ein Gym, das mir regelmäßig E-Mails schickt, die aber gar nicht an mich gehen sollten. Haley T. hat nämlich ebenfalls meine Mail-Adresse genutzt, um sich und ihre Kinder im Fitnessstudio anzumelden. Sie arbeitet als Lehrerin, ihre Telefonnummer startet mit 395 und ihr Kind hat im März Geburtstag.
Auf der Website des Gyms hat Haley ein Kontaktformular ausgefüllt. Weil sie wieder meine Mail-Adresse eingetragen hat, habe ich die Antwort erhalten – und nicht Haley.
Muss ich jetzt antworten? Bin ich gegen meinen Willen der PA von Haley und ihrem Mann geworden?
Also schön, da wartet auch schon der nächste Auftrag für mich: Die Fotos sind abholbereit! Haley hatte CVS mit der Entwicklung beauftragt – 50 Bilder im 4×6-Format und natürlich in Glossy. Sie liegen seit Sonntag in einer Filiale in San Diego bereit, schreibt das Customer Care Department. Die Entwicklung hätte normalerweise 21 US-Dollar gekostet, aber es gab 50 Prozent Rabatt. Einige Wochen später bedankt sich CVS abermals per Mail: «Danke, dass Sie bei uns eingekauft haben!»
David hat meine Mail-Adresse bei einem Hotel in Dubai eingetragen. Das «Taj Jumeirah Lakes Towers» möchte nun gern wissen, wie ich meinen Aufenthalt fand. Also, wie David seine Woche in Dubai fand. «I hope you have had a comfortable stay», schreibt Mohit. Das hoffe ich auch, weiß es aber nicht.
Cedric hingegen hat eine Nacht im «Golden Nugget» in Las Vegas gebucht. Er wohnt in LA, im Stadtteil Boyle Heights, in einem blau-weißen Haus. In der Buchungsbestätigung vom Hotel steht seine komplette Adresse. Die Mail hätte ich nicht empfangen dürfen, aber Cedric hat sich bei der Buchung vertan, er hat zudem Los Angeles falsch geschrieben: Los Angelas.
It was a pleasure to serve you
Cedric nächtigt in einem Deluxe-King-Zimmer, das 119 US-Dollar pro Nacht kostet. Check-in ist ab 15 Uhr möglich, Check-out dann spätestens um 11 Uhr. Einen Tag später meldet sich der Vice President of Hotel Operations bei mir, also bei Cedric: «It was a pleasure to serve you and we look forward to your next stay», schreibt er.
Philippe hat wieder etwas bestellt: Leckereien für insgesamt 87,43 Euro bei einem Lebensmittelanbieter in Italien. DPD schreibt, die Lieferung wäre nun nach Saint Hippolyte, Frankreich, unterwegs. Ich weiß, wo Philippe wohnt – seine volle Adresse steht in der Mail von DPD. Bei Google Maps kann ich mir seinen Ort anschauen, mich in sein Leben hinein fantasieren: Ich bin Philippe H., spaziere vorbei an der Kirche, an der Bushalte. Ich spreche fließend Französisch, bin aber zu doof, meine richtige E-Mail in einen Onlineshop zu tippen.
Mit meinen neuen Sprachfähigkeiten könnte ich Chantal eine Info simsen: «Salut Chantal! Tu utilises mon adresse e-mail. Veuillez modifier les horaires chez Telecom. Merci et bisous!»
Janine möchte ihr Google-Konto wiederherstellen, regelmäßig treffen die Mails mit den Bestätigungscodes ein – allerdings bei mir, weil auch Janine ein wenig trottelig war und meine Adresse als Adresse zur Wiederherstellung angegeben hat. Falls du das hier liest, liebe Janine, der aktuelle Code lautet: 265099.
Clement möchte (wieder) mehr wandern, Silvester steht vor der Tür, das neue Jahr mit seinen vielen neuen Vorsätzen. Zunächst hat Clement einen Account bei Komoot angelegt – mit meiner Mail-Adresse. Als Lieblingssportart hat C. erst mal nur «Wandern» angegeben; vielleicht kommt später noch «Laufen» hinzu. Wobei Clement den Zugriff auf sein Konto verloren hat: Die Mail mit dem neuen Passwort kam bei mir an und nicht bei ihm. Sorry, Clement, aber ich habe den Account gelöscht. «Danke, dass du Komoot genutzt hast.»
Samuel, Mitgründer des Onlineshops K., hat «une petite question»: Er möchte gern wissen, ob ich seinen Shop meinen Freunden weiterempfehlen würde. Das kann ich leider nicht sagen – ich habe den Shop nie besucht. Jemand anders schon, die Person hat meine Mail-Adresse dort hinterlassen. Einen Namen hat der Unbekannte allerdings nicht angegeben, deshalb richtet sich die Mail an Null.
Schön war’s und lecker, es gab tatsächlich Hummer
Renate H. bekommt derweil Fotos vom Kochabend mit Freunden zugeschickt: Schön war’s und lecker, es gab tatsächlich Hummer. Renate ist Geschäftsführerin und Dipl. Päd., ihre Mails lese ich seit Jahren mit, weil sie «ihre» eigene Adresse stets in CC nimmt. Ist halt meine Adresse, aber das weiß Dipl. Päd. Renate offenbar nicht. Oder bin ich Renate? Ich dachte, ich sei Philippe!
Viel lieber wäre ich Haley aus Kalifornien. Am Sonntag hat sie nämlich in Ruby’s Diner zwei Shakes bestellt, zwei «Kids Double Vanilla», aber ohne Kirschen. Die Getränke kosteten zusammen 10,75 US-Dollar, bezahlt hat sie mit ihrer VISA.