Andalusien

Ruhige Tage in Jerez

Jerez de la Frontera in Andalusien: Eine Stadt, die berühmt ist für Flamenco und Sherry. Viel los ist hier nicht – aber genau das macht den Charme der Stadt aus.

Jetzt in Jerez. In diese Stadt in der Provinz Cádiz kommen Touristen nur, wenn sie Pferde lieben oder ein Faible für Sherry haben. Sonst eher nicht. Wir interessieren uns nur oberflächlich für Weißwein und sind trotzdem hier. In Jerez beginnt nämlich unsere kleine Tour durch Andalusien: Mit dem Zug geht es übermorgen weiter nach Sevilla, anschließend nach Córdoba und schließlich zurück nach Cádiz.

Für Trinker mit Wissensdurst gibt es in Jerez immerhin diverse Touren durch Bodegas, wo das Nationalgetränk Andalusiens hergestellt wird. Besucher dürfen natürlich auch probieren, zum Beispiel beim größten Sherry-Produzenten der Welt, bei Gonzáles Byass. Der Name Sherry leitet sich von Seris oder Xeris ab, dem arabischen Namen der Stadt Jerez. Als die Engländer den Likörwein im 16. Jahrhundert kennenlernten, verbogen sie seinen Namen zu «Sherry».

Es weht ein laues Lüftchen, das sanft durchs Haar streicht

Wir trinken allerdings lieber Kaffee und sitzen deshalb vor der Cafeteria La Guinda, verweilen unter einem beigefarbenen Sonnenschirm und betrachten das Treiben auf der Plaza Plateros. Nebenbei essen wir klebrigen Kuchen mit Messer und Gabel. Es ist 18:52 Uhr. Zwei kleine Hunde liefern sich einen wütenden Schlagabtausch und bellen unsere Ohren taub. Es weht ein laues Lüftchen, das sanft durchs Haar streicht. Im Schatten ist es ein bisschen kühl – eigentlich sollte es um diese Jahreszeit viel wärmer sein, fast heiß. Eine drückende Hitze wäre jedoch unangenehm, rede ich mir ein, als ich meine gerupfte Hühnchenhaut betrachte.

Die Menschen treffen sich auf der Plaza Plateros, diesem schönen Platz in der Altstadt, um in Ruhe zu quatschen. Und es gibt viel zu erzählen, immer, zu jeder Tageszeit. Der Alltag bietet viel Stoff für lange Erläuterungen, Diskussionen und wütende Monologe. Betrunkenes Gestotter vermischt mit gesäuselten Liebesschwüren, unterbrochen durch ein Keifen, ein Geifern, ein lautes Lachen. Ich hingegen habe momentan nichts zu sagen. Da ist eine angenehme Leere in meinem Kopf.

Auch mal schön.

Doch als der Kellner kommt, muss ich sprechen und versuche meine Bestellung auf Spanisch.

«¡Hola! Un café … con leche. Por favor», sage ich.

Der Kellner schaut mich seltsam an. Er trägt ein weißes Hemd, darüber eine schwarze Weste. Er trägt außerdem eine schwarze Hose und einen schwarzen Backenbart. Klassischer Kellner. Nur verstehe ich kein Wort von dem, was er antwortet, nicke aber selbstsicher und bestätige pauschal alles: «Si, si, señior!»

Anschließend kann ich wieder schauen und lauschen. Ich mag die entspannte Ruhe hier, das warme Licht, den blauen Himmel. Ich mag, dass ich als Beobachter einfach zuschauen kann. Ich muss niemanden beeindrucken und muss mir keine Geschichten ausdenken. Ich darf einfach auf dem Stuhl sitzen und kann alle neuen Eindrücke aufsaugen.

Zum süßen Kuchen gibt’s ein scharfes Messer.

Später notiere ich ein paar Gedanken. In diesem Moment mögen sie banal erscheinen. Sie werden erst später ihre Wirkung entfalten: Wenn ich die Sätze lese und sie mich zurück in eine Vergangenheit versetzen, die in Jerez meine Gegenwart ist. Im Notizbuch stehen die kleinen Details, die für immer verloren wären, wenn ich sie nicht aufschreiben würde. Der Kellner zum Beispiel: Er würde in ein paar Wochen komplett verblassen. So aber lebt er in meinem Notizbuch weiter und immer, wenn ich darin lese, erinnere ich mich an sein starres Gesicht. (Für ihn bin ich nur irgendein Gast. Vielleicht wird er am Abend seiner Frau berichten, dass die deutsche Sprache ein wenig lustig klingt.)

Die Glocken der Iglesia de San Dionisio bimmeln aufgeregt. Spielend übertönen sie die kleinen Hunde, die plötzlich ehrfürchtig Ruhe geben. Sie haben verstanden, dass ihr Bellen jetzt sinnlos ist. Der Kellner bringt unseren Kuchen, der mit Messer und Gabel serviert wird. Der Kaffee kostet 1,30 Euro und schmeckt köstlich. Das also ist Jerez.

Der Klang von Sprache

Gelandet sind wir zusammen mit vielen Tui-Touristen, die zügig die großen Reisebusse bestiegen, nachdem sie ihre pinken Trolleys vom Gepäckband gewuchtet haben. Jerez war nicht ihr Ziel, sondern irgendwelche Hotelanlagen an der Küste.

Am Taxi-Stand stand kein Mensch. (Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde und kostete 16 Euro.) Je näher wir dem historischen Zentrum von Jerez kamen, desto schöner wurde die Stadt und umso enger die Straßen. Der Taxifahrer fuhr selbstsicher und rasant durch die Gassen; er wollte uns vielleicht beeindrucken. Ich achtete darauf, dass unser Gespräch abwechslungsreich und interessant war und ein paar Fakten enthielt. Außerdem versuchte ich, mein Deutsch besonders weich klingen zu lassen. Der Taxifahrer sollte seiner Frau am Abend überrascht berichten, wie schön Deutsch eigentlich klingt, wenn junge Menschen es sprechen.

Für einen Augenblick bilden wir auf offener Straße eine Kunstinstallation. Betrachter sehen zwei Koffer, meine Freundin und ich, zwei Rucksäcke und ein Beutel. Nach einigen Sekunden lösen wir uns aus der Starre, denn wir wissen den Weg zur Unterkunft.

Wir haben zwei Nächte in der Casa Seven gebucht. Nur ist niemand da, der uns einen Zimmerschlüssel geben könnte. Derjenige, der das normalerweise macht, käme heute später, erklärte ein älterer Herr, der zufällig anwesend war. Wer genau er eigentlich war, blieb unklar. Er führte uns zum Plaza Plateros und empfahl uns, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und es in einer Stunde erneut zu versuchen. Das war eine gute Idee, wie sich herausstellte.

21:50 Uhr

Abendessen im Meson del Asador. Erst sind wir rein, weil es draußen etwas zu kühl war. Aber drinnen gibt es keine Tapas – drinnen gibts nur große Portionen. Also gehen wir wieder raus, setzen uns an den letzten freien Tisch unter dem dunklen Himmel, bestellen Patatas Bravas, Aioli, Queso Manchego und diverse andere kleine Speisen. Dazu schlürfen wir Tinto de Verano und Cerveza. Wenige Minuten später ist der Tisch gedeckt mit Köstlichkeiten – das ist das gute Leben.

Gelbes Licht flutet die leeren Straßen von Jerez.

Am Nebentisch sitzt Steve aus Kanada mit seiner spanischen Geliebten. Er trägt einen schwarzen Schnauzbart, sie ein weinrotes Sommerkleid. Steve hat gerade so sein Filmstudium beendet, jetzt driftet er durch die Welt. (Seine Freundin studiert derweil Medizin in Toronto.) Steve hält ein Referat über Filme und raucht dabei. Die Geliebte interessiert sich für seinen cineastischen Monolog nicht, aber das kriegt Steve nicht mit, weil er so euphorisch erzählt, doziert, berichtet. Es geht um Jurassic Park und Steven Spielberg. Die Gedanken fliegen davon.

Um kurz vor Mitternacht kommt die Müllabfuhr. Es ist ein Höllenkrach. Schlafen kann ich aber sowieso nicht: Der Nachbar schnarcht so laut, dass auch unsere Wände wackeln.

29. Mai

Der erste Morgen in Andalusien, es ist 10:45 Uhr. Die Sonne scheint in unsere Augen und ein Fischgeruch steigt in unsere Nasen. Wir sitzen in der Café-Bar La Perla (3,3 Sterne bei Google), auf dem Plaza Esteve, gegenüber der Markthalle (4,4 Sterne). Heute ist Dienstag, überall laufen Menschen herum. Einerseits in Eile, andererseits auch entspannt, zum Beispiel dann, wenn Carla ihren Nachbarn trifft und sie erst einmal ein bisschen quatschen. Ältere Herren sitzen in sauberen Pullovern am Rand und plappern und lästern und lachen. Einer raucht. Der andere dann auch. Sie müssen nicht mehr arbeiten, sondern können diesen Werktag wie jeden anderen genießen.

Bei Manuel gibt’s leckere Churros!

Die Churros-Bude brummt, die Leute haben Lust auf Süßes. Manuel versorgt die Süchtigen, die jetzt dringend den Zucker brauchen. Churros sind längliche Krapfen, Fettgebäck, Glücklichmacher. Ein altes Ehepaar trägt eine prall gefüllte Papiertüte an unseren Nebentisch. Der Kellner bringt ihnen heiße Schokolade in einer Tasse. Sie tunken Churros hinein, glasieren sie und speisen vergnügt. Sie essen schweigend die halbe Tüte leer, den Rest lassen sie liegen. Der Kellner kommt und knüllt Papier und Churros zu einer großen Müllkugel zusammen.

Die Churros-Bude brummt, die Leute wollen Süßes

Zum Frühstück bestellen wir bei dem jungen Kellner Baguette, Marmelade und Kaffee. Außerdem einen Brotaufstrich aus pürierten Tomaten, der ein typisch andalusisches Frühstück komplettiert. Der junge Kellner hat seinen Job noch nicht lange, er ist sehr motiviert und erfüllt uns jeden Wunsch. Vielleicht hofft er auf ein gutes Trinkgeld, kann sein; kriegt er dann ja auch.

Churros mampfen, ein bisschen quatschen: So geht das süße Leben in Jerez.

Eine Frau verkauft Lottoscheine. Trällert, raucht und trinkt Cola. Ein alter Mann mit einer gerollten Zeitung unter dem Arm kauft ein Ticket. Er könnte einen Millionengewinn zwar gebrauchen, aber nicht mehr ausgiebig genießen. Er müsste den Reichtum vererben, an seine beiden Enkel, die auch nicht so recht wissen, wohin sie im Leben wollen. Der Mann hingegen weiß genau, wohin er will: auf den Stuhl neben dem Café-Eingang. Sitzen und Zeitung lesen, das ist sein Alltag. Er isst einen Apfel und bestellt ein Bier. Der Tag beginnt. Und ich bestelle einen zweite Caffee con Leche.

Siesta Now

Um 15 Uhr ist die Fußgängerzone menschenleer: Niemand mehr zu sehen, nur zwei Verkäuferinnen, die in einem Klamottenladen ausharren und sich dort gähnend langweilen. Die Siesta holt die Leute von den Straßen und lockt sie fürs Nickerchen aufs Sofa. Da ist auch noch ein einsamer Irrer, der eine Cola-Flasche in der Hand hält und lautstark mit sich selbst streitet. Schreiend streift er durch die leeren Straßen, wie ein ruheloser Geist, der Rache will. Wir hoffen, dass er uns nicht entdeckt und erstarren zu Säulen. Haben Glück. Der Irre dreht ab. Nur noch sein Lachen ist zu hören, wie es verhallt.


Um 0:27 Uhr liege ich im Bett. Mir ist leicht übel. Habe zu viel Tapas gegessen und zu viel Sherry getrunken. Und der Nachbar schnarcht wieder. Schnarcht laut, so verdammt laut!

30. Mai

Letztes Frühstück in Jerez: Wir sitzen an diesem Morgen vor der Casa Gabriela unter den Sonnenschirmen. Der frisch gepresste Orangensaft ist köstlich, ebenso die süßen Teilchen. Am Nachmittag machen wir uns auf den Weg zum Bahnhof, gehen zu Fuß und zerren die Koffer hinter uns her, zerren sie über schmale Bürgersteige, die kaum welche sind. Schlängeln uns an Menschen vorbei, die keine Lust haben, auch nur ein Stück zur Seite zu gehen. Bis der Zug abfährt, sind es jetzt noch anderthalb Stunden – genügend Zeit für eine kurze Kaffeepause im La Toscana, ein mittelmäßiges Café an einer Hauptstraße (das wenige Monate nach unserem Besuch seinen Betrieb eingestellt hat). Tisch 16 ist unserer.

Vertrocknete Pflanzen erinnern an vergangene Hitzeperioden

Dieser Teil der Stadt wurde nicht fürs Bestaunen gebaut: Die Häuser sind hässlich, funktional, grau. Zerfetzte Markisen hängen herab, vertrocknete Pflanzen erinnern an vergangene Hitzeperioden. Beschmierte Mülleimer, schlaffe Palmen. Beton, Abgase und Rost. Mich überkommt eine bleierne Müdigkeit, denn das laute Schnarchen des Nachbarn hat wieder die Nacht ruiniert. Ein erstaunlich lautes Grunzen drang durch die dünne Wand, völlig unregelmäßig – das klang überhaupt nicht gesund. Deshalb bin ich froh, dass es heute weitergeht, trotz des schönen Hotels.

Am Nebentisch trinken sie Cola und rauchen selbst gedrehte Kippen. Und sie husten und quatschen. Es sind leicht ekelhafte Leute, die offenbar keiner Arbeit nachgehen müssen. Wie wunderbar, dass sie hier in Ruhe sitzen können. Qualm wabert durch die Luft, wirbelt herum und verschwindet im Nichts. Ein Opa rollt vorbei, tief über seinen Rollator gebeugt. Er telefoniert mit seinem Enkel, der auch nur herumhängt. Ein Lastwagen rumpelt vorbei, dahinter folgt ein Linienbus mit Menschen, die mit traurigen Gesichtern ins Nichts starren. Blubbernde Motoren. Kreischende Bremsen. Eine Frau mit Hängebauch humpelt am Café vorbei, die Raucher kennen sie, grüßen sie: «Heiß heute, ne?» – «Nee, geht», findet die Frau. Feucht hustend. Sie rauchen gemeinsam, dann gehen die leicht ekelhaften Leute endlich. Sie hinterlassen einen überfüllten Aschenbecher und sorgfältig beschmierte Teller.

Der Cafébesitzer räumt alles ab und stellt die Tische an die Seite. Er will den Laden offenbar schließen und endlich schlafen, schließlich ist Siesta. Google behauptet zwar, dass dieses Café keine Siesta macht. Doch wenn keine Gäste mehr da sind, macht er einfach zu. Sicherlich hofft er, dass wir rasch bezahlen und unsere Koffer weiter die Straße entlang schieben.

Also gut: Wir bezahlen. Gracias por su visita, wünscht die Serviette stellvertretend. Das also war Jerez.