Der letzte Klick
Jahrzehntelang hatte die Vermilion Pencil Company die Kugelschreibermontage in hunderte Wohnzimmer ausgelagert. Hausfrauen wie Martina Schoppmann bekamen etwas Geld dafür, die Kugelschreiber in Handarbeit zusammenzubauen.
Martina saß also in ihrer kleinen Stube, schaute Privatfernsehen und baute nebenbei die kleinen Teile zusammen, klick-klack, wie in Trance. Sie war schnell und gut, sie nannte sich «die flinke Kuli-Martina». Es galt, das empfindliche Schraubgewinde keinesfalls zu überdrehen oder die Druckfeder zu verbiegen.
Ihre beiden Freundinnen Sabine Kohl, genannt Sabbel, und Cornelia Talbach, genannt Conny, waren von Martinas Fingerfertigkeit durchaus beeindruckt: Manchmal setzten sie sich dazu und saßen vormittags in den beiden Sesseln neben dem Sofa, in der Stube von Martina. Entspannt schauten sie dabei zu, wie die Hausfrau die Kulis gekonnt und geschwind montierte. Sie gerieten selbst in Trance – und Martina nahm 5 Mark «Eintritt» für eine Stunde Zugucken, denn sie war geschäftstüchtig und brauchte jede Mark für den anstehenden Lanzarote-Urlaub in einer Zwei-Sterne-Anlage mit Vollpension und Animationsprogramm.
Wie ein Savant konnte Klaus die ersten 50 Senderplätze auswendig
Während Martina eine überdurchschnittliche Fingerfertigkeit besaß, litt ihr Mann unter seinen derben Bratwurstfingern. Klaus Schoppmann konnte gerade einmal den TV-Sender mit der Fernbedienung wechseln. Doch beim Drücken erwischte er oft genug die falsche Taste, stellte den Ton aus oder führte andere ungewollte Aktionen am Farbfernseher der Marke Nordmende aus. Dass er die ersten 50 Senderplätze wie ein Savant auswendig konnte, half ihm dabei auch nicht weiter.
Da war auch diese Wut: Wenn ihm ein Umschaltmanöver mal wieder missglückt war, pfefferte er die Fernbedienung durch die Stube.
«Die kann da nix für!», schrie Martina und stöhnte genervt.
Klaus äffte sie daraufhin nach und saß den Rest des Abends leberwurstbeleidigt in seinem Sessel (in dem am Nachmittag Sabbel gesessen hatte).
Martina war fleißig, gewissenhaft und eben schnell, sodass sie recht gut verdiente, während ihr Mann als Sargträger nicht viel Geld nach Hause brachte, dafür aber schlechte Laune und einmal auch Tuberkulose.
Zum Glück kam wöchentlich der schöne Vermilion-Fahrer vorbei, um die montierten Kugelschreiber abzuholen und neue Einzelteile abzuliefern; abgerechnet wurde pro Stück. Der Fahrer, der Leon Rakete hieß und nebenbei Linguistik studierte, musste dann immer eine Limonade mit Martina trinken. Sie bestand darauf, sie duldete keinen Widerspruch.
«Setzen Sie sich!», rief sie vergnügt, wenn der Fahrer widerwillig ihre Wohnung betrat und sich zögerlich auf den frisch gesaugten Sessel setzte.
Als Sabbel ihren Blinddarm entfernt bekam und deshalb nur Conny in Martinas Stube saß, traute sich Martina endlich zu fragen: «Wie ist das eigentlich mit den K.-o.-Tropfen?»
Conny war vor einigen Jahren im Fun 3000 durch solche Tropfen in ihrem «Sex on the Beach» außer Gefecht gesetzt worden. Details zu dem Vorfall hatte sie jedoch keine verraten – und dabei blieb sie auch, was Martina schwer enttäuschte.
«Du bist keine Hilfe», motzte sie beleidigt, was Conny früh nach Hause gehen ließ. Die Bilder, die sie heimlich von Leon Rakete gemacht hatte, versteckte Martina in ihren Büchern. Sie wusste, dass ihr Mann niemals las; nicht lesen konnte.
Martinas Kuli-Karriere fand ein jähes Ende, als Klaus ihr voller Zorn beide Hände zertrümmerte. Zuvor hatte er mal wieder den Fernseher versehentlich abgeschaltet – obwohl es in Martinas Lieblingsserie «Unter uns» zu einem dramatischen Moment gekommen war, der Martina veranlasst hatte, zu rufen: «Klaus, mach lauter!»
Ihr Mann war aus dem Halbschlaf aufgeschreckt, hatte nach der Fernbedienung gegrapscht und panisch irgendeine Taste gedrückt – und damit das Fernsehgerät prompt abgeschaltet.
Martina schrie ihn an, er sei ein «dummes Stück Scheiße», ein «hässlicher Kackvogel» und ein «stinkender Prolet».
Klaus blieb ruhig, was ungewöhnlich war. Er verließ die Stube und schleppte sich in den Keller, wo sich sein Werkzeugkasten befand. Er entnahm einen Hammer, seinen alten Fäustel, und kehrte in die Stube zurück, um zum zweiten Mal in seinem ansonsten unspektakulären Leben ein Gewaltverbrechen zu begehen.
Während er im Gefängnis saß, flog Martina in den Urlaub: zwei Wochen Lanzarote mit Halbpension. Sie schrieb ihm keine Karte, das konnte sie nicht.
Dieser Text ist ein Auszug aus einer längeren Geschichte, die von der Vermillion Pencil Company handelt. Spoiler: Es wird doch noch ein Mord geschehen!