Leeres Haus, kalte Stille
Das Haus ist ausgekühlt, Andreas hat die Heizung und das Wasser abgestellt. Deshalb geht die Spülung nicht, ich muss also in den Garten pinkeln, durch den Jägerzaun in den Wald (hinterm Haus). Die Pisse dampft, die Bäume sind nackt und schwarz, und der Himmel ist bleiern. Andreas schließt die Haustür auf, wir gehen rein. Im Flur ist es totenstill. Der Geruch von früher ist noch da, mit ihm kehren sofort die Erinnerungen zurück: Wie ich in den Partykeller flitze, um dort Vanilleeis aus dem großen Gefrierschrank zu holen; wie wir gemeinsam vor dem Fernseher sitzen und Kommissar Rex schauen; wie wir nach einer langen Autofahrt ankommen; wie die Sonne durch das große Fenster ins Wohnzimmer scheint. Doch dieses Haus ist nur noch eine Hülle, ein verlassenes Schneckenhaus.
Im Wohnzimmer steht noch immer die weiße Leseleuchte. Die steht hier schon seit zwanzig Jahren, vielleicht noch länger. Im Regal thront zwischen alten Büchern eine Stereo-Anlage von Aiwa: das «Compact Disc Stereo System NSX-V70» mit «Super T-Bass», Dreifach-CD-Wechsler und Doppelkassettendeck. Es lief immer Musik aus einer heilen Welt, harmlose Melodien, die fand ich schlimm. Aber die Anlage, die fand ich cool. An der Wand hängt auch noch der riesige Teppich, der eigentlich auf dem Boden liegen sollte. Es ist alles noch da, als wäre nichts gewesen.
Auf dem Beistelltisch neben dem Ledersofa liegt ein College-Block. Auf dem karierten Papier sind die Positionen der Fernsehsender notiert: 1 = ARD, ZDF auf der Zwei, BR auf der Drei. Wie sich das gehört.
Vor dem großen Fenster steht eine Kiste, in der sich ein altes Roulette-Spiel befindet. Schon als Kind habe ich damit gespielt und nie gewonnen, und die Kiste steht immer noch genau dort – an exakt derselben Stelle. Es hat sich nur wenig verändert in den vergangenen zwanzig Jahren. Nur kalt war es hier nie. Und niemals war es so still wie jetzt.
Früher war der Kommentator bis in den Garten zu hören. Das Stöhnen von Steffi Graf. Im Sommer lief immer Tennis auf dem bauchigen Fernseher im Wohnzimmer und alle Türen standen weit offen, auch die vom Fernsehschrank. Es war warm, oft heiß. Als Kind war ich in den Sommerferien hier, immer zwei Wochen lang. Ich habe den Garten nur sattgrün in Erinnerung. Und überall Nacktschnecken, die Opa mit der Metallschaufel zerteilt hat. Die Schneckenstücke hat er abends über den Jägerzaun in den Wald geworfen. Ich sitze im Gras und spiele mit dem Playmobil-Raumschiff, das ich mir ausgeliehen habe.
Jetzt bin ich das erste Mal im Winter hier, in der schneidenden Kälte, in der ohrenbetäubenden Stille. Wir gehen seine alten Sachen durch, stopfen seine bunten Hemden in blaue Müllsäcke, sortieren alte Unterlagen, werfen vieles weg. Andreas wirkt unruhig und nervös. In diesem Haus ist er groß geworden. Seine Mutter wurde früh Witwe und fand einen neuen Partner – meinen Großvater. Geheiratet haben sie nie. Nur zusammengelebt, dreißig Jahre lang, in diesem Haus (direkt am Wald). Sein Name hat nie auf dem Klingelschild gestanden.
Das warme Abendlicht flutet den Garten. Langsam verschwindet die Sonne hinter den Bäumen. Insekten schwirren durch die Luft. Drüben bellt Charlie, der lustige Rauhaardackel, der mir die Sonnenmilch von den Beinen leckt. Mein Opa bohrt Ölfackeln in den Rasen und zündet sie an. Wir tanzen um die kleinen Flammen, lachen und haben Spaß. Er nennt mich «großer Meister», dabei kann ich nichts richtig gut. Es ist eine unbeschwerte Zeit mitten im Hochsommer, als zwei Wochen ewig gedauert haben. Jetzt wird das Haus bald abgerissen: alles platt, nichts mehr da. Die Gerüche werden sich verflüchtigen. Es bleiben nur noch Erinnerungen, die eines Tages aber auch verblassen werden.
Und dann wird da gar nichts mehr sein.