Frühstück für eine Leiche
Am Anfang waren es nur kleine Tiere gewesen: eine Ratte, eine Taube oder ein Igel. Sie verwesten in seinem Bett, und der kleine Thilo lag daneben und fand das schön. Seine Eltern empfanden sein morbides Interesse hingegen als merkwürdig. Doch weil sie keine Zeit und Lust hatten, konnten und wollten sie sich nicht um ihren stillen Sohn kümmern. Sie ließen ihn einfach machen.
Später reichten Thilo die Tiere nicht mehr. Die Katzen und Hunde aus der Nachbarschaft. Da hatten ihn seine Eltern längst überredet, bitte auszuziehen. Sein Vater zahlte die Miete für eine stickige Einzimmerwohnung am Stadtrand. Das war der Deal. Manchmal kamen sie zu Besuch, dann kaufte Thilo beim Bäcker süßen Erdbeerkuchen. Dazu tranken sie Kaffee mit viel Milch. Die Schlafzimmertür blieb stets verschlossen; ein süßlicher Geruch hing in der Luft.
«Schön hast du es hier», behauptete sein Vater und lächelte sozusagen. Der Junge nickte, es ging ihm gut.
Ob er denn eine Freundin hätte, fragte seine Mutter. Thilo schüttelte den Kopf: «Noch nicht.» Dann sprachen sie über Belanglosigkeiten, über die Sommerhitze und den bevorstehenden Strandurlaub. Von seinem neuen Job auf dem Friedhof erzählte Thilo seinen Eltern nichts.
Nebenbei verbrannte Jürgen Stief, gestorben an autoerotischer Asphyxie
Maria lernte er im Krematorium kennen. Nebenbei verbrannte Jürgen Stief, 52 Jahre alt, mutmaßlich versehentlich gestorben an autoerotischer Asphyxie.
«Ich könnte stundenlang zuschauen», schwärmte Maria, als sie durch das Guckloch in die Hauptbrennkammer blickte, wo das Feuer den dürren Körper verschlang. Sie beschrieb ihm die schwarzen Rippenbögen, beschrieb den Schädel in allen Einzelheiten. Neulich hatte der Doppelrohr-Schlot dämonisch geglüht, erzählte Maria begeistert. Da war ein schwer adipöser Mann verbrannt.
«Fast 220 Kilo hatte der Kerl gewogen, was für ein krasses Erlebnis!»
Der Chef war ziemlich nervös gewesen, gänzlich unsicher, ob der Ofen das packen würde. Heute war Herr Schank jedoch schlicht sauer, denn es fehlte eine Leiche. Der Körper von Frau Fielmann war nicht auffindbar.
«Einfach weg», rief Schank aufgebracht und schüttelte mehrmals den Kopf. Sie saßen zusammen im Pausenraum und tranken schwarzen Kaffee, der nach Asche schmeckte.
«Vielleicht ist sie auferstanden», scherzte Maria.
«Ja, ja, sehr witzig», winkte Schank ab und verschwand in seinem Büro, um die Polizei zu informieren.
Kurz vor Feierabend nahm Thilo all seinen Mut zusammen und fragte Maria, ob sie ihn heute Abend besuchen wollte. Sie willigte ein und fragte, ob sie Wein mitbringen sollte. Er nickte, obwohl er keinen Wein mochte.
Sie kam pünktlich, Thilo bat sie herein. Er hatte die Wohnung gründlich geputzt, gesaugt und gewischt. Sie aßen Salamipizza und tranken den Wein zügig aus, um die Nervosität zu ertränken. Der erste Kuss geschah um 22 Uhr. Auf seinem IKEA-Sofa fummelten sie herum, ehe Maria aufstand und sich auszog. Nackt öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer: Im gemachten Bett lag Elfriede Fielmann, 79 Jahre alt, erst vor wenigen Tagen gestorben. Eigentlich sollte sie längst ein Häufchen Asche sein, aber da lag sie nun, als würde sie friedlich schlummern.
«Shit, ganz vergessen», rief Thilo und eilte ins Schlafzimmer.
«Hilf mir mal, bitte.» Er packte die Tote an den schmalen Schultern. Gemeinsam trugen sie den nackten Körper ins Wohnzimmer und legten ihn auf das IKEA-Sofa.
«Die stinkt schon ein wenig», sagte Maria.
Thilo öffnete das Fenster, er wohnte – wie alle Triebtäter – unterm Dach.
«Schön ist die auch nicht», sagte Maria.
«Gibt schönere», gab Thilo zu. Er bedeckte die Tote mit einer Decke, die sorgfältig gefaltet auf dem Sofa gelegen hatte. Dann zog er sich eilig aus und folgte Maria ins Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen saßen sie zusammen am Frühstückstisch, es roch nach Kaffee und Tod. Thilo hatte sich früh aus dem Schlafzimmer geschlichen, um frische Brötchen vom Bäcker zu holen. Er hatte außerdem drei Eier gekocht und den Tisch sorgfältig gedeckt. Sogar ein Blümchen stand dort: Er hatte es vor dem Haus gepflückt.
Seltsam war nur, dass Elfriede Fielmann mit am Tisch saß und stumpf ins Leere starrte. Thilo hatte sie mit Gurten am Stuhl festgeschnallt. Im Hintergrund surrte ein Ventilator. Durch die Fenster drang der Lärm der Stadt; es war ein sonniger Tag im Spätsommer.
Sie hatten eine Weile schweigend gegessen, bis Maria endlich den Mut fand, zu sprechen. Sie legte ihre Brötchenhälfte auf den Teller und räusperte sich. Thilo schaute sie an. Ihre Stimme war leise, aber klar.
«Zum Mittag möchte ich gern Frau Fielmann essen», sagte sie und blickte zur Toten. «Mit dir zusammen, meine ich.»