NYC

Extremely Hot City

Der Geruch von Hotdogs, das Hupen der Taxis und Travis Bickle am Steuer: Willkommen in Manhattan!

Travis steuert das Taxi rücksichtslos den Expressway entlang, fährt auf dem Seitenstreifen und überholt hupend ein anderes Taxi, das gerade erst uns überholt hat. Seine rasante Fahrweise lässt Travis völlig kalt: Unbeeindruckt von den vielen Beinahekollisionen telefoniert er seelenruhig mit seiner Mom. Am Horizont zeichnen sich derweil die ersten Wolkenkratzer ab – da ist sie also: die Skyline von Manhattan. Zwischen den Hochhäusern ragt das elegante Empire State Building in den Himmel, und Travis, dieser Wahnsinnige, drückt das Gaspedal bis aufs Bodenblech und fährt gefährlich schnell in den Queens-Midtown-Tunnel. An dessen Ende sehen wir das grelle Licht; und dann sind wir angekommen, in Manhattan, und wir haben überlebt.


«Your room is 2118. Twenty-one, eighteen», sagt der Rezeptionist und legt die Plastikkarten auf die kühle Oberfläche des Tresens. «Do you need help with your bags?»

«No, thanks», sage ich, weil ich kein Kleingeld fürs Trinkgeld parat habe und den Pagen nicht nach Wechselgeld fragen will.

Im Fahrstuhl gibt es zweiundzwanzig Knöpfe für zweiundzwanzig Etagen und dann noch einige mehr. Darunter auch der obligatorische Placebo-Knopf, der uns Fahrstuhlfahrern das Gefühl von Kontrolle vorgaukelt.

Close Doors, Abfahrt.

In der einundzwanzigsten Etage, vor Zimmer #2118 – twenty-one, eighteen – schiebe ich die Plastikkarte in den Schlitz. Leise klickt das Schloss und ein grünes Lämpchen leuchtet. Die Tür kann geöffnet werden.

Das Zimmer ist erstaunlich groß. In einem Holzschrank versteckt sich ein Röhrenfernseher, den ich sofort anschalte. Der Bildschirm beginnt knisternd zu flimmern und auf der Mattscheibe erscheint der größte amerikanische Held aller Zeiten: George Costanza aus Seinfeld.


Am nächsten Morgen betrete ich müde die Fahrstuhlkabine und drücke L für Lounge, L für Lobby. Ächzend setzt sich der Fahrstuhl in Bewegung und rumpelt gemächlich dem Erdboden entgegen. Nach drei Etagen hält er widerwillig an, andere Hotelgäste steigen zu und drücken sicherheitshalber auch auf L, obwohl der Knopf bereits leuchtet. So geht das weiter, Etage für Etage. Fremde Körper rücken immer dichter zusammen – und es kommen noch mehr Menschen in den Aufzug. Geschäftsleute, Touristen, drei Kleinkinder und ein Großpudel. Irgendwo zwischen der zehnten und achten Etage rücken wir eng zusammen, um nicht auf den Koffern stehen zu müssen. Ich fürchte schon, dass die Stahlseile jeden Moment reißen und wir in die Tiefe rauschen werden; aber ich weiß, dass moderne Fahrstühle nicht einfach abstürzen.

Neben mir steht eine Frau, die komplett in Schwarz gekleidet ist. Nur ihr Lippenstift leuchtet knallrot. Unsere Blicke begegnen sich kurz, als der Aufzug endlich das Erdgeschoss erreicht hat. Die Türen gleiten quietschend zur Seite und wir beide müssen herausfinden, wer zuerst aussteigen darf. Sie lässt mir den Vortritt und lächelt.

Draußen beleuchtet die Sonne mit voller Kraft diese wunderbare Stadt. Taucht die eiskalten Hochhäuser in goldenes Licht und erwärmt ihre Insassen und die grauen Tauben und die gelben Taxis auf den Straßen. Unbeeindruckt von meiner Anwesenheit nehmen die Dinge ihren Lauf: Autobremsen quietschen und zischen, Presslufthämmer zetern, Autos hupen aufgeregt, als würden sie Weibchen anlocken. Nur die wütenden Feuerwehrtrucks übertönen das Getöse. Brüllend bahnen sie sich den Weg durch die Häuserschlucht. Ich lausche aufmerksam der Kakofonie der Großstadt, um rasch ihre Sprache zu lernen.


Im Cafe Edison drücken sie einem das Menü in die Hand und die Kellnerin mit der Zahnspange fragt: «Coffee or tea?»

«Coffee, of course.»

Spontan bestelle ich die Golden Pancakes, einfach so, obwohl ich sonst immer Toast und Frosted Flakes esse. Wenig später liegen vier dicke Pancakes vor mir auf dem Teller. Viel Ahornsirup drüber und los. Doch schnell ist klar: Das ist zu viel; viel zu viel. Am Nebentisch kapitulieren sie auch vor der Teigmasse und schieben die halb vollen Teller zur Seite. Das reinste Schlachtfeld, Sieger und Besiegte. Wir schwenken weiße Fahnen.

Pappsatt und zu keiner Bewegung mehr fähig, beschließe ich: Morgen esse ich wieder Toast und Flakes.


In Manhattan gibt es an jeder Straßenecke mindestens eine Starbucks-Filiale. Für Koffein ist also immer gesorgt. Ich betrete eine der Filialen und bestelle einen «Caffè Latte Grande to go». Der ist immer verdammt heiß und verbrennt mir die Zunge. Steht aber auch als Warnung auf dem Pappbecher: Careful, the beverage you are about to enjoy is extremely hot.

Die wirklich guten Sitzplätze – nämlich die gemütlichen Sessel am Fenster – sind wie immer belegt. Da sitzen dynamische Frauen und Männer mit ihren MacBooks, Blackberrys und iPhones. Geschäftsmänner in Anzügen und Geschäftsfrauen in Kostümen, die in Eile ihre Cappuccinos schlürfen, ehe sie wieder in die verglasten Wolkenkratzer verschwinden müssen und mit Millionen Dollar jonglieren.

Und da sitzt die digitale Bohème und mampft überteuerten Salat. Bei Starbucks. Die einen füllen irgendwelche Formulare aus, erledigen hier Papierkram. Die anderen lesen eng gedruckte Texte, telefonieren dabei und hören Musik.

«And, uuuhm, isn’t that crazy?», trällert eine in ihr Telefon, «I’m not an excuse-me-guy», gesteht ein anderer telefonisch.

Draußen vor dem großen Fenstern versammelt sich eine Gruppe junger Juden mit kleinen Namensschildern an der Brust: «Hello, my name is ARI», in breiten Großbuchstaben hingekritzelt. Mit vielen Händen formen Ari und seine Freunde einen Davidstern – für dieses Kunststück sind mindestens vier Hände nötig. Lachend eilen sie davon, sie haben Rückenwind. Ein junger Jedi betritt das Café und schaut sich aufgeregt um. Es ist ein Junge mit blauem Laserschwert aus Plastik. Er will die dynamischen Frauen und Männer köpfen, dann kriegt er den besten Platz am Fenster.


Das Gegenteil von Gemütlichkeit ist das Planet Hollywood am Times Square im dritten Stock. Die Aussicht: nicht vorhanden, denn es gibt keine Fenster. Hierher verirren sich nur Touristen und Geister. Der Service ist sehr aufmerksam, doch mich nervt das ziemlich schnell. Die absurd fröhlichen Kellner stehen ganz nah an unserem Tisch, der aufgeregt kippelt. Sie sind fast schon aufdringlich, nennen den eigenen Namen – Hey guys, I’m David! – und fragen mehrmals, wie das Essen ist und ob man noch was zu trinken haben möchte. Dabei bin ich doch ganz zufrieden und will nur mein Grilled Tuscan Sandwich essen und keine Interviews geben.

«Is everything alright, sir?»

Wäre es, wenn sie mich mal alle in Ruhe essen lassen würden. Und jetzt lassen Sie das Kind doch mal nach vorn!

An der Decke hängen ein Dutzend Flachbildschirme, auf denen Musikvideos und Filmtrailer laufen. Es ist laut und die Lichtstrahler blenden. Slimer, das komische grüne Monster aus Ghostbusters, schwebt in der Luft und lacht mich aus. Das alles ist bunt und grell und irgendwie zu viel; viel zu viel.


Es scheint, als seien viele Menschen ständig unterwegs, als würden sie nie ankommen, als umrundeten sie den ganzen Tag lang die Häuserblocks. In der einen Hand halten sie den omnipräsenten Pappbecher von Starbucks, in der anderen ihre Aktenkoffer, Handtaschen, Beutel und Tüten. Nichts hält sie auf, schon gar nicht eine rote Ampel. Am Anfang war das großartig, einfach bei Rot über die Straße zu laufen, weil das alle tun, weil ich das in Deutschland nur selten mache. Aber schon nach einigen Tagen wurde das ständige «Jaywalking» regelrecht anstrengend. Auf was ich auch alles achten muss: das Ampelsignal der Autos, die eiligen Geschäftsleute, die rasenden Taxis von links und die Fahrradfahrer, die von allen Seiten kommen. Dazu die Jogger, die Hunde und die Jedis.

Wartende Menschen in New York City

Manchmal, wenn ich mir eine kleine Pause gönnen will, stelle ich mich einfach zu den anderen Touristen und den Senioren, die brav warten. Gemeinsam warten wir dann aufs weiße Signal, während die agilen New Yorker wie Frogger zwischen heißen Motorhauben herumhüpfen. Mir fällt dann immer ein, dass ich es gar nicht eilig habe.

Am meisten macht es mir Spaß, einfach durch die Straßen zu schlendern. Ohne Ziel, ohne Hast, ohne Termindruck. Die Sonne steht tief. Die Stadt präsentiert sich von ihrer besten Seite. Alles ist goldig. Manchmal bleibe ich stehen, um ein paar Fotos zu machen oder um die Szenerie zu beobachten. Plötzlich steht ein Geschäftsmann neben mir. Anzug, Krawatte, guter Duft.

«Can I help you?», fragt er. «Are you lost?»

No, no, alles gut, «thanks!»

Ich grinse, er auch. Er wünscht mir noch einen schönen Tag und schon ist er wieder weg. Immer in Eile, diese Leute.


In der rechten Hand hält er einen schwarzen Aktenkoffer, mit der linken zerquetscht er Luft. Der Mann wartet auf die Staten Island Ferry, er trägt einen grauen Anzug, der ihm ein seriöses Aussehen verleiht. Er sieht aus wie ein Vertreter von Scientology und würde nicht weiter auffallen, wenn er nicht eine wirre Rede über den Irakkrieg halten würde. Er schreit fast, doch niemand schenkt ihm Beachtung, niemand hört ihm zu. Ein ganz normaler Wahnsinniger in einer wahnsinnigen Welt.

Die Fähre legt an, Menschen eilen von und wieder an Bord. Darunter viele Touristen, die während der Fahrt staunend an der Reling stehen und fleißig Fotos von der Freiheitsstatue und der Skyline machen. Die New Yorker, die jeden Tag die Fähre nehmen, dösen oder lösen Kreuzworträtsel.


Im Trump Tower sehe ich viele weiße Turnschuhe. Eigentlich gibt es hier nichts zu sehen – es ist trotzdem voll. Und es werden immer mehr weiße Turnschuhe.

Eine Frau sagt zu ihrer Freundin, dass sie ein Foto machen soll.

«Hier ist meine Kamera und ich stelle mich am besten vor diese unscheinbare Milchglaswand neben diese Blume und du drückst ab.»

«Sicher? Neben dieser scheußlichen Blume willst du stehen?»

«Nun mach schon, Ute.»

Der ganze Rest des pompösen Interiors leuchtet in grellen, goldenen Farben, links und rechts schimmert Marmor, plätschern Wasserfälle. Und diese Frau steht vor der einzigen weißen Milchglaswand weit und breit, neben dieser hässlichen Pflanze, der es auch schon mal besserging. Das hat schon was, auf eine merkwürdige Art und Weise.


Im McDonald’s am Union Square sitzen drei junge Japaner und berechnen mit Taschenrechnern komplizierte Formeln und lesen in dicken Büchern über Themen, die ich nie verstehen werde – wenn ich denn je von ihnen gehört hätte.

Vor mir steht eine small Sprite, die zu klein ist, und ein Southwest Salad, in dem zu wenig Hühnchenfleisch drin ist. Ich kaue gründlich und denke an nichts. Mein Kopf fühlt sich leicht und leer an, jemand wischt feucht durch. Die Putzfrauen reden Spanisch, hinter mir sprechen sie Französisch und ich schreibe Deutsch. Und die Deckenleuchte brummt.


Erst Shootings, dann ein Mord und dazwischen Osama Bin Laden und der «Ninja Burglar». Dann schaut Carmen Electra mich an und ruft: «It’s 10pm – do you know where your kids are?»

Aufgeregt springe ich vom Bett auf, nein, weiß ich nicht! Ich stürme raus auf den Times Square – schön, wie bunt das hier alles blinkt.

«Do you like comedy?», fragt jemand.

«No!», lüge ich.

Ein dicker Mann bietet mir Bustickets an, die ich nicht will, und eine graue Frau will mir einen Infofilm über Dianetik aufschwatzen, den ich erst recht nicht will. Und wo ist eigentlich der Naked Cowboy mit seiner Gitarre?

Es ist eine warme Nacht, die erhellt wird durch grelles Neonlicht und weiße Fotoblitze. Trubelig geht es zu: das Hupen der Taxis, die heulenden Sirenen der Polizei und Feuerwehr. Hunderte Touristen auf den Straßen, sie strömen aus den zahlreichen Musicals und befinden sich nun auf dem Weg zu einem späten Abendessen. Ein paar Shrimps bei Bubba Gump, Spaghetti im Olive Garden oder doch nur ein Stück Pizza bei Sbarro. Alles ist möglich für die Anspruchslosen.


Vor zehn Jahren war ich schon einmal hier, im Winter 1997, ich war zwölf Jahre alt. Zusammen mit meiner Mutter und meiner Tante saß ich in genau dieser McDonald’s-Filiale, direkt am Times Square. Mich hat damals ein Schild nachhaltig beeindruckt, auf dem stand, dass man nicht länger als 20 Minuten bleiben soll. Würde tatsächlich jemand kommen, mit einer Stoppuhr in der Hand, und uns rauswerfen? (Draußen roch es nach Hotdogs, es war kalt und windig.)

Zehn Jahre später sitze ich wieder bei McDonald’s, am Times Square. Das Schild ist verschwunden. Ein schlanker Mann sitzt an einem der klebrigen Tische und bürstet sorgfältig seine schulterlangen Haare. Sie sind schwarz und lockig. Er steht auf und kontrolliert seine Frisur in der verspiegelten Säule: alles gut. Zufrieden setzt er sich zum zweiten Mal um. Sein Blick springt hin und her. Nervös wippt sein rechtes Bein auf und ab. Wo bleibt sein Date mit den Fritten?

An einem 4er-Tisch sitzt eine Familie. Deutsche. Sie sagen: «Schießbörga, ja?». Der Vater hält gerade einen Vortrag für seine Tochter über den Times Square. Ich kann nicht alles verstehen, aber er muss so etwas sagen wie: «Und früher haben hier die Crackhuren ihre verlebten Körper angeboten.»

«Versteh schon», sagt das Mädchen abgeklärt.

Zeiten ändern sich. Die Härte ist verschwunden, jetzt geht es nur noch darum, viel Geld auszugeben. Wir sollen uns wohlfühlen, und Glück ist käuflich, behaupten jedenfalls die Konzerne.

Am Times Square gibt es immerhin noch den Gentlemen’s Club. Die heißesten Topless-Tänzerinnen sollen dort zu sehen sein. Have a drink, guck Sport, lass es dir gut gehen. Aber ich will nicht, obwohl ich gedurft hätte. Ich wollte mir eine Abfuhr der bulligen Türsteher ersparen: Sie hätten gewusst, dass sich in meiner Tasche nicht mehr als ein zerknüllter Dollarschein befand.


«Time to go», singt die Decke im Deli, und leider hat sie recht. Ich kaufe ein letztes Mal die New York Times – die Sonntagsausgabe ist 5 Zentimeter dick – und einen Chicken Burrito für 5$.

Am späten Abend winkt der Hotelpage ein Taxi herbei. Ein leichter Regen rieselt leise auf die Stadt herab. Auf dem dunklen Asphalt tanzen die Neon- und Bremslichter in den Pfützen. Über uns müssten die Sterne flimmern, die ich aber nur erahnen kann – New York überstrahlt alles, jeden Stern, jede Supernova.

Ich falle ins Taxi, «JFK, please».

Travis gibt Gas, er hat’s eilig, wie jeder Bewohner dieser Stadt, die nie auch nur ein Nickerchen macht.

Hinter der Geschichte

Im Winter 1997/98 war ich das erste Mal in New York City, mit meiner Mutter und meiner Tante. Die Stadt war überwältigend – die Gerüche, die vielen Menschen, die Autos, der Lärm. Silvester verbrachten wir am überfüllten Times Square. Anschließend vergingen zehn Jahre, bis ich im September 2007 in einem Touristen-Flieger wieder nach NYC flog. Ich habe einige Notizen aufgeschrieben, die als Basis für diesen Text dienten. Nicht alles stimmt.