Im Sommer 2020 sind Flugreisen leider nicht selbstverständlich. Die Coronapandemie zwingt zum Umdenken – und offenbart einen bedauerlichen Umstand: Europa lässt sich nur zeitraubend mit dem Zug bereisen. Von Hannover nach Amsterdam zum Beispiel dauert die Fahrt 4 bis 5 Stunden, je nach Zug und Uhrzeit. In Japan braucht der Zug für eine vergleichbare Strecke nur zwei Stunden – Shinkansen sei Dank. Im Oktober 2017 stieg ich gemeinsam mit meiner Frau in den Nozomi und schrieb das Folgende auf.
Zwei Stunden und fünfzehn Minuten: So lange braucht der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen von Tokyo nach Kyoto – von der aktuellen zur früheren japanischen Hauptstadt. Zwei Stunden und fünfzehn Minuten für 476 Kilometer. Die Fahrt verging fast zu schnell: Rasant rauschte die Landschaft am Fenster vorbei – grüne Berge, dichte Bambuswälder und viele Bäume, in deren Wipfeln sich der Nebel verfing. Dann wieder Straßen, eckige Autos und schmale Häuser. Viel grau und viel grün. Das ist das Land, das ist Japan im Zeitraffer.
Mit durchschnittlich 211 km/h fährt der Shinkansen Nozomi die Tōkaidō-Strecke entlang – er gehört zu den schnellsten Zügen in Japan. Von Tokyo aus fährt alle zehn Minuten ein Nozomi gen Westen. Und weil der Schnellzug ein eigenes Schienennetz befährt, das komplett von Bummelzügen und vom Güterverkehr getrennt ist, kommt es kaum zu Verspätungen. Pro Tag sind es auf alle Shinkansen gerechnet nur wenige Minuten, wenn überhaupt. Dieser Umstand ist durchaus beeindruckend.
Unser Zug ist der Nozomi #281, geplante Abfahrtszeit: 11:23 Uhr. Mit der U-Bahn erreichen wir zunächst den Hauptbahnhof von Tokyo, wo uns ein wirres Durcheinander empfängt. Körper strömen in alle Richtungen, Geschäftsleute, Touristen, Schulklassen – es ist, als würden die Menschenströme nie versiegen, als würden sich die Leute immer wieder hinten anstellen, damit das Treiben niemals auch nur ins Stocken gerät. Wir müssen uns konzentrieren und das richtige Gleis finden – also immer den Schildern nach, die sagen: «Shinkansen Tracks». Außerdem müssen wir die richtige Linie erwischen: Die Tōkaidō-Hauptlinie verbindet Tokyo auch mit Kyoto.
Zur Vorbereitung waren wir bereits vor einigen Tagen hier gewesen. Wir wissen also, wohin wir müssen. An jenem regnerischen Tag kauften wir in einem JR-Office auch die Fahrkarten, weil das am Automat nicht geklappt hatte. (Wahrscheinlich lag das an unseren deutschen Kreditkarten, die die Maschine partout nicht akzeptieren wollte.) Der Ticketkauf beim menschlichen JR-Mitarbeiter ging dann auch viel schneller als am seelenlosen Automaten – und einfacher. Ich überreichte dem jungen Mann mit beiden Händen einen Zettel, auf den ich alle nötigen Informationen notiert hatte. Der Mann klapperte ein bisschen auf seiner Tastatur herum und druckte geschwind die kleinen Tickets aus. Eine Sache von wenigen Minuten, die uns insgesamt 55.640 Yen gekostet hat. (Zu dem Zeitpunkt entsprach das 426,21 Euro für die Hin- und Rückfahrt für zwei Personen.) Die Busse sind zwar günstiger, brauchen aber auch viel länger – und wir haben keine Zeit zu verlieren.
Am richtigen Gleis stehen wir in einer kurzen Warteschlange. Jeder weiß, wohin er muss, denn die Wagen halten immer an denselben Stellen, die deutlich markiert sind. Niemand muss durch den halben Zug latschen, um den reservierten Platz zu erreichen. Der Shinkansen steht schon bereit, ein N700, dessen Türen geschlossen bleiben, solange die Reinigungskräfte die letzten Krümel aufgesaugt haben. Als die Türen sich dann öffnen, betreten die Passagiere geordnet den Zug. Alles geschieht zügig, alle im Gleichschritt, ohne Rempeln, ohne Wahnsinn. Unsere Koffer verstauen wir über unseren Köpfen in der großzügigen Ablage. Wir sitzen kaum, als der Zug auch schon abfährt – auf die Minute genau. «Welcome to the Shinkansen Super Express», trällert eine Frauenstimme und draußen gleiten die grauen Gebäude vorbei. Ich habe das Pfeifen des Zuges und sein sonores Brummen im Ohr.
Wie auf ein geheimes Kommando kramen die Passagiere ihre Bento-Boxen und Sushi-Sets hervor. Es ist offenbar Zeit fürs Mittagessen. Wir haben uns ebenfalls vor der Abfahrt mit Proviant versorgt; in Plastikschalen liegen viele kleine Köstlichkeiten vor uns. Es ist erstaunlich, wie gut das abgepackte Essen aus den Supermärkten und Konbinis schmeckt. Als würde im Hinterzimmer tatsächlich jemand sitzen und die Speisen liebevoll zubereiten. (Es wäre ein sehr alter Japaner, der längst in Rente ist, aber noch etwas Geld verdienen und der Langeweile entkommen möchte. Der Alte sitzt also in seiner kleinen Küche, kocht Kürbisse, schneidet Gemüse und all das. Bei den Sandwiches entfernt er sorgfältig den Rand und lässt ihn in einem Loch im Boden verschwinden. Ihm zur Hand geht seine Ehefrau, vierzig Jahre älter als er, auch sie verdient nebenbei ein paar Yen dazu. Eine neurotische Aushilfe trägt die verpackten Mittagessen dann in den Verkaufsraum und legt sie in die Kühltruhe.)
Nach dem Essen arbeiten die Salarymen fleißig weiter, tippen stumpf auf ihren Tastaturen herum, beantworten E-Mails, starren wie in Trance auf ihre Laptops, auf denen noch ein uraltes Windows läuft. Die jungen Männer in Anzügen sorgen für ein bisschen Büroatmosphäre. Als bei einem das Handy klingelt, springt er erschrocken auf und verlässt eilig das Abteil. Er will niemanden stören, niemandem mit seinem Geplapper belästigen. Ich muss zum Glück nicht telefonieren oder arbeiten – ich bin frei und schaue aus dem Fenster, sehe braune Erde und grüne Hügel; die Landschaft wirkt feucht und saftig. Der Zug rauscht an einem Friedhof vorbei, an einer leeren Kreuzung, an einer einsamen Tankstelle, an dämonisch rauchenden Schornsteinen. Plötzlich wird alles schwarz, weil der Zug durch einen Tunnel fährt1.
Es gibt auf der einen Seite zwei und auf der anderen Seite drei Sitze nebeneinander. Alle Passagiere schauen immer in Fahrtrichtung – eine Besonderheit des Shinkansen. Kommt er am letzten Bahnhof an, werden die Sitze für die Rückfahrt einfach umgedreht. Das bedeutet aber auch, dass wir auf dem Weg zurück nach Tokyo dasselbe sehen werden wie auf der Hinfahrt. Um die andere Seite kennenzulernen, hätten wir zwei Sitze in der 3er-Reihe buchen müssen. Doch wir haben sowieso Pech mit dem Wetter: Regen und Nebel beschränken die Sicht. Ich hatte gehofft, dass wir am Horizont den Mt. Fuji erkennen würden, doch wir sehen nur eine weiß-graue Unendlichkeit. Trübe ist die Aussicht.
Ich vertiefe mich in mein Buch und lese Südlich der Grenze, westlich der Sonne von Haruki Murakami (übersetzt von Ursula Gräfe). In Deutschland berühmt wurde es als Gefährliche Geliebte, das im Literarischen Quartett für einen legendären Streit zwischen Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler sorgte. Seite für Seite verschlinge ich die Geschichte von Hajime und Shimamoto, und irgendwie passen in diesem Augenblick das Wetter und die Landschaft perfekt zum Buch.
Um 13:38 Uhr treffen wir in Kyoto ein. Es ist exakt die Uhrzeit, die auf dem Ticket steht. Keine Minute Verspätung – wahrscheinlich keine Sekunde, weil das Reisen in Japan effizient geregelt wird. Der Ausstieg geht schnell, man habe nur «wenige Minuten», warnt die Frauenstimme eindringlich. Dann setzt sich der Nozomi #281 wieder in Bewegung, um seine Reise fortzusetzen. Wir schauen dem seltsam geformten Zug hinterher, weiter geht es mit der Metro in Richtung Norden. Der Himmel ist weiß, es regnet.
Es wäre wirklich wunderbar, wenn ganz Europa ein vergleichbares Schnellstrecken-Netz hätte. Wenn man in Hannover in den Zug einsteigen und zwei Stunden später in Amsterdam, Brüssel oder Prag aussteigen könnte.