2020: Ein persönlicher Jahresrückblick

Dieses seltsame Jahr 2020 ist bald vorbei: Zeit für einen Blick zurück – und nach vorn.

Im Januar war alles noch normal. Wir saßen weit hinten im Aegi-Theater, vorne scherzte Felix Lobrecht1, und wir lachten Tränen. Hype-Tour, ausverkauft, viele junge Leute wuselten umher; ich fühlte mich ein bisschen alt. Zwei Wochen später steht das Publikum, weil es keine Bestuhlung gibt. Seltsam. Patrick Salmen darf sitzen, vorne auf der Bühne, während er vorliest und erzählt. Wie eine Party, nur dass niemand tanzt. Aber wir trinken und ich stoße versehentlich meinen Becher um, stehe den Rest des Abends in einer Pfütze und hoffe, dass mir niemand Inkontinenz unterstellt. Bis dahin also ein normales Jahr.

  1. Hype und Kenn ick gibt es inzwischen bei Netflix. Ich empfehle außerdem Tropical von Hazel Brugger. (Darf man eigentlich Louis C.K. wieder lustig finden? Too soon?)

Hiergeblieben!

Dann die ersten News aus China. Sie zimmern in kurzer Zeit ein Krankenhaus zusammen, das steht dann da. Verrückt, kaum zu glauben. Eine mysteriöse Lungenkrankheit greift um sich. Pandemie, Corona – Thema des Jahres. Plötzlich ist es normal, mit Maske durch den Aldi zu stolpern. Zugfahren mit Maske ist normal, flanieren mit Maske und Urlaub mit Maske. Wir wären dieses Jahr gern nach Italien gereist, doch das ging nicht. Stattdessen Dangast im Norden. Wir wären gern nach Peru gereist, doch das ging nicht. Stattdessen Tegernsee im Süden. Auch schön, aber eben anders. Es ist komisch, wenn man alles versteht und mit jedem normal reden kann. Kein wortsuchendes Stottern, kein «Donde está la, ääh, biblioteca?» Es ist auch komisch, dass Deutsche immer etwas … anstrengend sind, selbst im Urlaub. Sind wir – meine Frau und ich – eigentlich auch so?2

  1. Seit ich eine praktische Regenjacke von Jack Wolfskin besitze, frage ich mich täglich: Bin ich nun auch ein öder Spießer? Eine Kartoffel? Ich rede mir dann ein: nee! Denn ich habe keine Brille, die von selbst zur Sonnenbrille wird, und ich habe auch keine lange Hose, die via Reißverschluss zu einer kurzen wird. Aber Moment mal, ist das da etwa ein Deuter-Rucksack?

Richtig arbeiten

Während Deutschland das Home-Office entdeckte, änderte sich für mich in dieser Hinsicht nichts. Als selbstständiger Schreiber schrieb ich weiterhin von zu Hause. Ich habe die Zeit vor allem genutzt, um an meinen literarischen Texten zu arbeiten. Geld zahlt mir noch niemand dafür, aber es ist unheimlich beglückend, Texte reifen zu sehen. Aus einer flüchtigen Idee wird ein brauchbarer Entwurf, wird eine runde Geschichte mit gutem Ende. Nur: Wer veröffentlicht eigentlich Kurzgeschichten? Und wer liest die? («Niemand, du Lappen!», mault der pessimistische Hausgeist, der über meinem Kopf schwebt. «Geh lieber richtig arbeiten!»)

Die Sonne geht unter – und das Jahr zu Ende. 2020, du warst echt seltsam.

Mein Hauptprojekt ist eine Langgeschichte, ein Roman, der in den vergangen Monaten ordentlich zugelegt hat. Manchmal glaube ich, dass er gut genug für den harten Buchmarkt ist – regelmäßig überkommen mich jedoch auch Zweifel. Das muss wohl so sein. Für 2021 habe ich mir jedenfalls vorgenommen, mich endlich an Literaturagenturen zu wenden und meinen Roman zu pitchen. Aufregendes Gefühl, fast schon Euphorie. Doch da ist auch eine latente Furcht, dass niemand meine Sätze lesen will.

Ich habe 2019 meine Festanstellung gekündigt, weil ich mehr schreiben wollte, keine Fachartikel, keine Meldungen, sondern Belletristik. Das habe ich 2020 getan und das war wunderbar. Andererseits vermisse ich (natürlich) gewisse Dinge: Kollegen, Teamwork, Rückhalt und auch ein festes Einkommen. Hätte ich in diesem seltsamen Jahr vor der Entscheidung gestanden, meinen Job zu kündigen – ich hätte es wohl nicht getan.

Lesen und Hören

Wer schreibt, muss viel lesen. In diesem Jahr waren das vor allem Bücher von japanischen Autorinnen und Autoren: Verdächtige Geliebte, Heilige Mörderin und Unter der Mitternachtssonne von Keigo Higashino. Außerdem Die Ladenhüterin von Sayaka Murata, 50 von Hideo Yokoyama sowie Kafka am Strand von Haruki Murakami, den ich erst 2017 für mich entdeckt habe. (Momentan lese ich die Neuübersetzung vom Aufziehvogel.) Beeindruckt hat mich Im Keller von Jan Philipp Reemtsma. Der Publizist und Mäzen verarbeitet darin seine Entführung im Jahr 1996.

Gehört habe ich viele Podcasts: Zeit Verbrechen (Folge 17 befasst sich mit der Reemtsma-Entführung), Wind of Change, S-Town (großartig!), Rabbit Hole und weitere. Außerdem hörte ich viel Jazz, die alten Klassiker, vor allem John Coltrane. Bester Mann, leider viel zu früh gestorben. Vor Kurzem las ich die tolle Biographie von Peter Kemper, die kann ich auch wärmstens empfehlen. Bin dann zurück in den Buchladen (sic) gegangen, um Giant Steps auf CD (sic) zu erwerben, aber die war mir dann zu teuer. End of story.

Wer kauft denn 2020 noch CDs? Ich. Meistens höre ich zwar Musik über eine einsame Sonos-Box im Wohnzimmer, manchmal aber eben auch über die kraftvolle Stereo-Anlage ebendort3. Der Sound ist um Welten besser! (Duh.) Die Anlage hat jedoch keine Verbindung zum WWW, also muss ich wie ein Hurensohn CDs einlegen. Also: Sie erst suchen, dann den Player überreden, dass er sie bitte, bitte auch annimmt. Nölig lehnt er CDs gern ab, weigert sich, sie zu spielen. Als wäre der CD-Player ein totaler Schlager-Fan und würde nur Helene F. spielen wollen. Auch die Sonos-Lautsprecher sind gern mal zickig und verweigern sich ihrer Bestimmung. Wie auch der drahtlose Drucker, der seit unserem Umzug vergangenes Jahr nicht mehr auf Anhieb druckt. Und wenn der gnädige Kasten doch mal druckt, druckt er erst mal nur wirre Zeichen auf tausend Seiten, als wäre er vom Teufel besessen.

  1. Die anderen Boxen stehen im Esszimmer und in der Küche. Insgesamt beschallen drei Sonos One unsere Mietwohnung, deren Wände aus verklebten Pappen besteht. Deswegen ist Action-Kino auch nicht drin: Der Bass bollert bis in die fünfte Etage. (Liebe Grüße!)

Stadtleben

Apropos Umzug: Seit genau einem Jahr leben wir in einem anderen Stadtteil (für Kenner: in der List in Hannover). Zuvor wohnten wir in der Südstadt (für Kenner: nicht weit vom Maschsee entfernt). Den Umzug hat ein Umzugsunternehmen4 erledigt, das war schon erstaunlich. Die drei Männer haben in vier Stunden alles in den LKW geschoben und ein paar Kilometer entfernt wieder ausgeräumt. Ratzfatz ging das, genial. Nie wieder werde ich auch nur einen Umzugskarton (voller Kissen) selbst schleppen!

  1. Etwaige Nachteile: Die Gardinenstange haben die Männer hektisch und einigermaßen schlampig an die Wand gedübelt – sie kam uns einige Monate später krachend entgegen. Außerdem haben die Männer den Turm aus Umzugskartons zu hoch gestapelt – Gott wurde wütend und machte den Turm kaputt. Der Plattenspieler fiel vom Gipfel hinab und brach sich ein Bein. Usw.

Der neue Stadtteil ist lebhafter als der alte: Mehr Leute, die sabbeln, und viel mehr Kinder, die kreischend auf Bäume klettern oder Bälle gegen Metallzäune bolzen. Dann sind da noch die Autos, die Baustellen, die Laubbläser und die komischen Nachbarn, die sich lautstark und stundenlang anbrüllen. Manchmal fantasiere ich mich in eine einsame Hütte im Wald; tief im Wald, abgeschieden vom Rest der Welt. Da hocke ich und – tja, was dann eigentlich? Gibt es da Internet? Und was will das Wildschwein von mir? Ach so, es will Bahn-Tickets ausdrucken. Sorry, aber der Drucker möchte heute nicht. […] Will sagen: Je älter ich werde, desto mehr mag ich Stille. Das ist aber ganz normal, glaube ich. Vielleicht gönn ich mir 2021 ja Kopfhörer mit ANC. Und einen neuen Drucker.

Laufen und latschen

Ein neuer Stadtteil bedeutet auch: neue Jogging-Strecken! Vorher hatte ich den Maschsee in der Nähe (6 Kilometer Umfang – perfekte Jogging-Runde), jetzt laufe ich meistens einen langen Kanal entlang. Der ist ganz schön langweilig. Ich überquere dann irgendeine Brücke und laufe auf der anderen Kanalseite wieder zurück. Na ja. Sportlich habe ich mir außerdem das Ziel gesetzt, jeden Tag 10.000 Schritte zurückzulegen. (Ich überwache das mit der Google-Fit-App, die natürlich nicht mitzählt, wenn ich in der Wohnung vor Wildschweinen weglaufe.) Es ist gar nicht so leicht, täglich auf 10.000 Schritte zu kommen, oft liege ich knapp darunter. Mein Rekord für 2020 liegt bei immerhin 28.544 Schritten an einem Tag – da war ich in Berlin jewesen, wah! Monatlich lande ich bei durchschnittlich 250.000 Schritten. Außerdem finde ich, dass das Laufen […]. Oh, die Zeit ist leider um, also Schluss jetzt, wer soll das denn alles lesen? Das Jahr geht jedenfalls vorbei und ein neues beginnt. Wird spannend!

Ach, da war ja noch etwas: Im Oktober 2020 habe ich geheiratet, trotz Corona. Bester Tag! Foto: Filipp Romanovskij

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Daniel Berger ist Tech-Journalist in Hannover, er schreibt Artikel über das Internet. Außerdem bloggt er Stadtgeschichten über Hannover. Mehr